Datum: 3. Februar 2019 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Lukas 15,25-31
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Der ältere Sohn im Gleichnis ist im eigenen Zuhause fremd und lebt eine verbitterte «Waisenkind Mentalität». Der ganze Reichtum des Vaters würde ihm zur Verfügung stehen, doch er nutzt ihn nicht. Wie kann der Wandel von einem solchen Lebensstil zu einer Sohn- bzw. Tochtermentalität und somit zu einem befreiten Christsein geschehen? 


Das Zuhause ist der Ort, wo ich bedingungslos angenommen bin und mich so geben kann, wie ich bin. Dort kann ich auch mal einen «Anschiss» zur Schau tragen und es wird etwas ungemütlich. Auf der anderen Seite teilt man auch die Freuden, man setzt sich füreinander ein, fühlt sich in den anderen hinein und tut alles, wenn jemand aus der Familie leidet oder angegriffen wird.

«Du aber darfst sagen: ‘Beim HERRN bin ich geborgen!’ Ja, bei Gott, dem Höchsten, hast du Heimat gefunden» (Psalm 91,9). Bei Gott dürfen wir uns genauso ungezwungen und frei fühlen wie in einer gesunden Familie zu Hause! Durch den Glauben an Jesus Christus sind wir Gottes Tochter bzw. Sohn und gehören zu seiner Familie. Dort dürfen wir gerne auch mal unser Montagsgesicht zeigen und Füsse auf den Tisch halten.

Knecht oder Sohn

Für mich ist die Geschichte vom Vater mit den zwei verlorenen Söhnen das stärkste Bild für Heimat in der Bibel. Das Bild, das der ältere Sohn abgibt, stimmt mich sehr traurig. Über viele Jahre musste dieser sich im Hause des Vaters übergangen und in die Ecke gedrängt gefühlt haben. Sein ganzer Frust kommt in den folgenden Sätzen zum Ausdruck: «Aber er hielt seinem Vater vor: ‘So viele Jahre diene ich dir jetzt schon und habe mich nie deinen Anordnungen widersetzt. Und doch hast du mir nie auch nur einen Ziegenbock gegeben, sodass ich mit meinen Freunden hätte feiern können! Und nun kommt dieser Mensch da zurück, dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren durchgebracht hat, und du lässt das Mastkalb für ihn schlachten!’» (Lukas 15,29+30; NGÜ).

Der ältere Sohn hat sich angepasst und äusserlich getan, was man von einem Sohn erwartet. Dabei hatte er stets das Gefühl, zu kurz zu kommen. Er sieht die drei Geschenke, die der jüngere Sohn bekam, diese Zeichen der Sohnschaft. Was er aber nicht sieht, ist, dass er das alles auch hat. Deshalb ist er neidisch und fühlt sich zurückversetzt. Äusserlich war er beim Vater zu Hause, doch sein Herz ist weit weg.

Er hat sich mehr als Knecht, denn als Sohn gefühlt. Das sagt er auch: «Du weisst doch: All die Jahre habe ich wie ein Sklave für dich geschuftet, nie war ich dir ungehorsam. […]» (Lukas 15,29; GN). Der ältere Sohn repräsentiert die Religiösen der damaligen Zeit. Die, die Jesus gerade vorgeworfen hatten, dass Sein Verhalten unangemessen sei. Er steht für all die Menschen, die meinen, sie könnten Gott durch richtiges Verhalten beeindrucken. Dieser Sohn hat nicht ansatzweise verstanden, was Gnade bedeutet. Ihm ist sonnenklar: Das Wohlgefallen des Vaters verdient man sich durch Taten.

Er hat sich nicht von seinem Vater losgesagt. Er hat sich immer eingefügt und getan, was von ihm verlangt wurde. Er hat nicht verstanden, dass die Liebe und Annahme des Vaters weder von seinem guten, noch vom schlechten Verhalten seines Bruders abhängen. Ich schliesse mich der Meinung von Henri Nouwen an, wenn er sagt: «Ich habe keine Schwierigkeit, mich mit dem älterem Sohn zu identifizieren, der sich beklagte. Wenn ich tief in mein eigenes Leben hineinschaue und mich dann bei dem der anderen umsehe, frage ich mich, was grösseren Schaden anrichtet: die Gier oder der Groll. Unter den Redlichen und Gerechten findet sich so viel Groll und Griesgram, unter den Heiligen gibt es so viel Vorurteil, soviel Verurteilung. Unter den Leuten, die mit so viel Eifer Sünden meiden, herrscht so viel abstossende Kälte.»

Es kommt nicht selten in Familien vor, dass Kinder keine emotionale Bindung zum Vater oder zur Mutter aufbauen können. Das geschieht beispielsweise, wenn eines der Elternteile emotional oder auch räumlich abwesend sind, wenn Kinder vernachlässigt oder gar missbraucht werden. Solche Fremdheit zu Hause ist der Stoff, aus dem schon viele traurige Lebensgeschichten entstanden sind. Wenn Menschen dann mit solchen Erfahrungen im Gepäck eine Beziehung mit dem himmlischen Vater aufbauen sollen, kommt es oft auch zu Bindungsstörungen. Es kommt einfach kein Heimatgefühl auf.

Der ältere Sohn hat aus eigener Entscheidung als Sohn ein Sklavendasein gefristet, der Vater forderte dies nicht ein. Im Gegenteil: «Sein Vater sagte zu ihm: ‘Sieh, mein lieber Sohn, du und ich, wir stehen uns sehr nahe, und alles, was ich habe, gehört dir.’» (Lukas 15,31; NL).

Waisenkind- oder Tochter- / Sohn Mentalität

Es gibt viele traurige Geschichten von Waisenkindern, die von Eltern in der Schweiz adoptiert wurden. Diese Kinder kommen mit grossen Defiziten zu ihren Adoptiveltern. Viele Eltern verzweifeln an dieser Aufgabe, das Manko der Kinder aufzufüllen, beinahe. Und tatsächlich gelingt es in manchen Fällen, durch viel Liebe und Zeit, die Mentalität der Kinder zu heilen.

Dieses Zuhause-Fremdsein hat grosse Auswirkungen. Dies soll nun in einer Gegenüberstellung einer Waisenkind Mentalität zu einer Tochter- bzw. Sohn Mentalität gezeigt werden. Mir ist aufgefallen, wie viel Waisenkind Mentalität in meiner Beziehung zum himmlischen Vater zum Ausdruck kommt.

Waisenkindmentalität (WKM): Es gibt nie genug. Es herrscht die Angst, dass es zu wenig haben könnte, andere ein grösseres Stück des Kuchens bekommen und ich zu kurz komme. An unserem Tisch mussten acht hungrige Mäuler gestopft werden. Dass dies besser gelingt, gab es vorab eine sättigende Suppe. Dann ging es los. Unterschwellig vom Gefühl bestimmt, zu kurz zu kommen, schlugen wir ein horrendes Essenstempo an, um nicht plötzlich vor der leeren Pfanne zu sitzen. Sohn-Tochter-Mentalität (STM): Es ist mehr als genug da, es reicht für mich, es reicht für alle im Vaterhaus. Sie kennen ihren himmlischen Vater, von dem es heisst: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. […] Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfliessendes Mass wird man in euren Schoss geben» (Lukas 6,36-38; Lut).

WKM: Vergleicht mit anderen. Das kann von Stolz begleitet sein, wenn man auf andere herabschaut, oder von Neid und Eifersucht, wenn am an anderen hinaufschaut. Es ist sehr schwierig, wenn man immer vergleichen muss. Es gibt immer Punkte, bei denen man verliert. Man schaut auf den Besitz der anderen, auf die Feriendestination, auf Begabungen, auf die Kinder der anderen. Und je nachdem fühlt man sich überlegen oder einfach nur schlecht. Beziehungen, in denen man vergleicht, sind schwierig. STM freut sich über dem, was andere mehr haben oder besser können. Diese Mentalität ermöglicht unbeschwerte Beziehungen.

WKM: Wohlverhalten aus Angst, abgelehnt oder weggeben zu werden. Aus Angst, nicht mehr dazuzugehören, schmeichelt man sich ein und macht auf sich aufmerksam. STM: Muss sich nicht in Szene setzen oder nach vorne drängen.

WKM: Angst, übergangen zu werden, etwas zu verpassen. Man kämpft um Liebe und Annahme («ich zeige denen, was ich kann»), man verteidigt seine Position in der Firma oder in der Kirche. Diese Menschen leben oft über ihren Grenzen, weil sie meinen, sie müssen es allen beweisen. STM: Sicherheit, nicht übersehen zu werden oder etwas zu verpassen. Solche Menschen können Positionen abgeben und freuen sich, wenn andere in den Vordergrund rücken.

WKM: Es muss bleiben, wie es immer war. Veränderung können das, was man sich erarbeitet hat, in Frage stellen. Oft ufern deshalb Veränderungsprozesse in Rechthaberei aus. In Kirchen gibt es Streit über Nebensächlichkeiten. Weil ich mich sicher fühlen will, muss es bleiben, wie es immer war. Menschen mit einer Sohnes- bzw. Tochterverankerung im Vaterhaus leben Vaterschaft, auch wenn es nicht gerade so läuft, wie sie denken. Sie wollen nur etwas: dass aus ihrer Vaterschaft neue Töchter und Söhne heranreifen. Deshalb begleiten sie Veränderung wohlwollend.

WKM manipuliert und muss kontrollieren. Wenn man nicht mehr kontrollieren kann, wirft man den Bettel hin und sagt, dass es doch ein anderer machen soll. STM multipliziert sich. Sie leitet andere an und merkt, dass sich die eigene Aufgabe verändert.

WKM bringt Waisenkinder hervor. STM bringt Söhne und Töchtern hervor.

WKM bringt Menschen in Abhängigkeitsbeziehungen. STM macht andere erfolgreich.

WKM hält Menschen fest. Sie kann Kontrolle nicht verlieren und Anrechte nicht aufgeben. Sie kann auch schlecht vergeben, weil sie dann kein Anrecht mehr hat, andere im Gefängnis zu halten. STM kann loslassen, auch wenn es schmerzt. Weil sie Anrechte aufgeben kann, kann sie vergeben.

Es ist schwierig mit Leuten zusammenzuarbeiten, die eine Waisenkindmentalität leben (Ehe, Arbeit, Kirche, Nachbarschaft). In solchen Situationen versuche ich mir jeweils zu vergegenwärtigen, dass jemand nicht gegen mich reagiert, sondern aus einer Erfahrung, die noch nicht heil ist.

Bitter oder heil

Auf Rembrandts Gemälde zu den verlorenen Söhnen stechen einem diese Sachverhalte ins Auge. Der ältere Sohn hat den Mantel um sich genommen. Er bedeckt und schützt niemand anders. Sein Blick ist in verurteilender Weise nach unten auf den Vater und den anderen Sohn und deren emotionale Begrüssung gerichtet. Er nimmt eine be- oder gar verurteilende Haltung ein. Im Gegensatz dazu legt der Vater seinen Mantel über seinen Sohn. Mit der mütterlichen, feingliedrigen Hand streicht er dem Sohn über den Rücken und mit der männlichen, stärkeren Hand packt er ihn an den Schultern und gibt ihm Sicherheit.

Mit Henri Nouwen frage ich mich: «Kann der ältere Sohn in mir heimkommen? Kann ich gefunden werden, wie der jüngere Sohn gefunden wurde? Wie kann ich umkehren, wenn ich in Verbitterung verloren bin, in Neid verstrickt, wenn Gehorsam und Pflicht, die wie eine Versklavung gelebt werden, mich eingekerkert halten? Es ist klar, dass ich allein, aus mir selbst heraus, mich selbst nicht finden kann. Noch weniger als jüngerer Sohn kann ich als der ältere Sohn mich selbst heilen.»

Kann Waisenkindmentalität geheilt werden? Selbstverständlich, aber nicht aus uns selbst heraus. Im Gleichnis heisst es: «Der ältere Bruder wurde zornig und wollte nicht ins Haus hineingehen. Da kam sein Vater heraus und redete ihm gut zu» (Lukas 15,28; NGÜ). Der Vater nimmt sich dem älteren Sohn genauso proaktiv an, wie er es beim jüngeren getan hat. Jedem so, wie er es braucht. Dann sagt er zu ihm: «Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir» (Lukas 15,31; NGÜ). Im griechischen Wort für Kind «teknon» steckt eine ganz liebevolle Form der Anrede. Der Vater legt seine ganze Liebe und Annahme in dieses Wort.

In dieser Ansprache steckt kraftvolle Heilung. Gott will seine Vater- und Mutterhand auf dich legen. Du hast Gewand, Ring, Sandalen! Und dann ist es wichtig, sich einzugestehen, woher der innere Ärger, die Missstimmung, die Selbstzweifel kommen. Man darf die Schuld nicht immer nur bei den anderen sehen und dann halt einmal mehr den Job oder die Kirche wechseln.

Die Waisenkindmentalität kann durch Vertrauen und Dankbarkeit heilwerden. Auf dem Heilungsweg gilt es, eine grosse Dankbarkeit einzuüben für das, was im Leben ist. Wir müssen nicht aus dem Mangel herausleben, sondern aus Dankbarkeit. «Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir.» Diesen Satz gilt es tief im Herzen zu verankern. Unser Vater im Himmel teilt alles mit uns. Er beschenkt uns. Um das ganz tief einzuatmen, müssen wir immer wieder den Weg von den Knechten auf dem Feld in den Festsaal gehen. Manchen hilft es, dies symbolisch zu tun, in dem man eine Tür öffnet und hindurchgeht und sich vom Vater ansprechen lässt.

Das Zentralste ist das Wirken des Heiligen Geistes. Dieser ist es, der uns in alle Wahrheit führt. Ein Leben in Vertrauen und Dankbarkeit einüben können wir nur, wenn wir den Geist Gottes haben. Und dann braucht es vielleicht auch Seelsorge, einen Menschen, der diese Wahrheiten einem immer wieder zuspricht und hilft, Hindernisse zu beseitigen. Es gibt zu viele Christen, die (noch) nicht in einer Tochter- bzw. Sohnesmentalität leben.

In Römer 11 schreibt Paulus, dass die Juden durch den Glauben der Heiden eifersüchtig gemacht werden sollen. Wird dein Umfeld durch dein Leben im Vaterhaus eifersüchtig. Konnte das Evangelium bei dir so richtig landen? Eine Waisenkindmentalität stösst ab. Eine Sohnes- bzw. Tochtermentalität macht eifersüchtig. Wir wollen, dass Menschen um uns herum eifersüchtig werden und sagen: «Das will ich auch!»

 

 

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Lukas 15,25-31

  1. Warum tun sich Waisenkinder oder auch Adoptivkinder manchmal schwer, in einer neuen Familie Vertrauen aufzubauen?
  2. Versuche dich doch einmal in den älteren Sohn einzufühlen. Wo findest du Denk- oder Verhaltensweisen, die dir bekannt vorkommen?
  3. Kennst du solche Bindungsstörungen zu dem himmlischen Vater? Was könnte die Ursache dafür sein?
  4. In welchen Punkten der beschriebenen ‘Waisenkindmentalität’ brauchst auch du Heilung?
  5. Wie könnten wir mehr in die Sohnes- bzw. Tochtermentalität hineinwachsen und so einen ansteckenden Glauben leben?