Datum: 24. Oktober 2021 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Matthäus 7,12

«Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen. In diesem Satz sind das Gesetz und die Propheten zusammengefasst» (Matthäus 7,12 NLB). Das ist die sogenannte Goldene Regel von Jesus. In diesem einen Satz steckt das Potenzial, die Welt zum Guten zu verändern. Nach der Goldenen Regel ist das Gebot der Liebe eine zweite Zusammenfassung des Gesetzes und der Propheten. Wenn wir proaktiv und in Liebe mit den anderen umgehen, nimmt Gottes Reich definitiv Gestalt an.


 

Mir geht es manchmal so, dass ich die Übersicht verliere und aus lauter Komplexität gar nichts mehr tue. Letzten Montag war mein erster Arbeitstag nach einer Woche Ferien. In meinem Postfach befanden sich 92 Mails. Um möglichst schnell ins Tagesgeschäft zu kommen, versuche ich diese im Eilzugstempo abzuarbeiten und wenn immer möglich zu löschen. So haben externe Anfragen wenig Chancen auf Berücksichtigung. Die Fülle und Komplexität der Anforderungen lähmen mich mehr, als dass sie mich beflügeln.

Genauso könnte es uns mit der Bergpredigt ergehen. Jesus spricht über sehr viele Tugenden. Überall entdecken wir Potenzial zur Metamorphose. Doch es ist zu unübersichtlich und zu komplex, so dass wir in die Gefahr geraten, gar nichts mehr zu tun. Das ist ein Stolperstein auf unserem Weg zu einem Jesus ähnlichen Charakter, dem Jesus mit der sogenannten Goldenen Regel begegnet: «Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen. In diesem Satz sind das Gesetz und die Propheten zusammengefasst» (Matthäus 7,12 NLB). Jesus gibt uns hier etwas mit, das klar und einfach und plausibel ist.

Tun

Mit der Goldenen Regel legt Jesus keinen gesteigerten Wert darauf, originell zu sein. Im Judentum zur Zeit Jesu erzählte man sich, dass ein Mensch zum berühmten Lehrer Rabbi Hillel gekommen sei und ihn aufgefordert habe, ihm das jüdische Gesetz in der Zeit beizubringen, während der er auf einem Fuss stehen könne. Rabbi Hillel sprach: «Was du nicht willst, das andere dir tun, das tue auch nicht anderen. Das ist das ganze Gesetz; alles Übrige, was auf vielen Schriftrollen geschrieben steht, ist nur dessen Erklärung.» In unserem Sprachgebrauch hat sich die vereinfachte gereimte Fassung durchgesetzt: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu.»

Neulich sah ich eine Mutter mit ihrem noch kleinen Kind auf dem Arm. Der kleine Mann verspürte Lust, der Mutter mit seinen kleinen Patschhändchen ins Gesicht zu schlagen. Die Mutter fand das nicht lustig, ergriff die Händchen des Kleinen und unterband die Schläge. Nach kurzer Zeit schlug der Junge aber erneut zu. «Willst du, dass ich dich auch schlage?» Darauf folgten zwei, drei kleine Schläge. Der Junge erschrak und war irritiert. Diese Irritation führte dazu, dass der Junge das Schlagen beendete. Ob das die richtige Erziehungsmethode ist, sei dahingestellt. Bei einem Konflikt mit meiner Frau ziehe ich mich am liebsten schweigend zurück. Wenn ich nun aus diesem Grund im umgekehrten Fall nicht auf meine Frau zugehe, dann haben wir die Regel zwar erfüllt, aber unsere Beziehung leidet.

Bei der negativen Formulierung kommt unweigerlich die Grenze dessen in den Blick, was ich mir dem anderen gegenüber gerade noch erlauben darf. In diesem Fall geht es um die Frage: Wie weit darf ich gehen, dass ich die Freiheit des anderen nicht verletze, dass ich ihn nicht störe, dass ich ihm nicht lästig werde. Es ist, wie wenn ich um meinen Garten einen hohen Zaun errichte. Dieser bewahrt mich zwar davor, in den Garten des Nachbarn zu trampeln, aber er erschwert es, dass wir spontan aufeinander zugehen.

Jesus begnügt sich nicht mit einer Vermeidungstaktik, dass wir bloss rücksichtsvoll nebeneinanderher leben, sondern ermutigt uns zu einem herzlichen Miteinander. Deshalb formuliert Jesus positiv: «Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen. In diesem Satz sind das Gesetz und die Propheten zusammengefasst» (Matthäus 7,12 NLB). Wenn es das Leben mit Gott unübersichtlich und komplex erscheint, gilt es sich an diese einfache Grundregel zu halten und zu beginnen, entsprechend zu leben. Menschen mit Charakter haben die Fähigkeit entwickelt, sich nicht mit dem Komplexitätsargument aus der Verantwortung zu stehlen, sondern eine einfache handlungsleitende Frage zu stellen: Behandle ich andere so, wie ich auch behandelt werden will?

Proaktiv tun

«Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen.» Das Grossartige liegt für mich darin, dass Jesus uns zunächst einlädt, uns zu fragen: «Was wünsche ich mir eigentlich? Wonach sehne ich mich?» Jesus schleudert uns nicht Verbote und Forderungen entgegen, sondern die schlichte Frage: Was will ich eigentlich? Mach das, was du mit allen Fasern deines Körpers, was du mit ganzer Seele willst! Denk ruhig zuerst an dich selbst und daran, was für dich Glück ist. Und dann tue es für den Nächsten. Das ist der Unterschied zum Narzissmus: Ich bleibe nicht bei mir stehen, sondern achte den anderen höher als mich selbst und werde zu seinen Gunsten aktiv.

Die Goldene Regel widerspricht der defensiven Einstellung des Abwartens im Sinne von: Ich bleibe misstrauisch, warte ab und schaue zuerst, was mir der andere Gutes tut; dann als Belohnung werde ich es ihm vergelten. Er soll mein Vertrauen verdienen. Nein, die Goldene Regel will, dass wir proaktiv mit dem Tun des Guten beginnen. Auch gerade Menschen gegenüber, die das nicht verdienen. Wir werden zur Aktion und nicht zur Reaktion aufgefordert.

  • Wenn ich also erwarte, dass ein anderer für mich eintritt, wenn ich in Abwesenheit verleumdet werde, kann ich selbst damit beginnen, für andere ein gutes Wort einzulegen.
  • Wenn ich hoffe, dass mir vergeben wird, wo ich schuldig geworden bin, kann ich selbst damit starten – ganz egal ob der andere mich schon um Vergebung gebeten hat oder nicht.
  • Wenn ich allein zu Hause bin und mich darüber ärgere, dass mich keiner besucht, kann ich mich selbst auf den Weg machen, um einen anderen aufzusuchen.
  • Und wenn es mir recht wäre, dass andere für mich beten, kann ich selbst ein Gebet für andere sprechen.

Es ist unglaublich: In diesem einen Satz von Jesus steckt das Potenzial für eine neue Kultur entsprechend der neuen Welt Gottes.

Proaktiv liebend tun

Jesus sagt, dass in der Goldene Regel die Propheten und das Gesetz zusammengefasst sei. Im gleichen Evangelium gibt Jesus noch eine andere Zusammenfassung der Propheten und der Gebote. Die Freunde Jesu fragten: «‘Meister, welches ist das wichtigste Gebot im Gesetz von Mose?’ Jesus antwortete: ‘Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken!’ Das ist das erste und wichtigste Gebot. Ein weiteres ist genauso wichtig: ‘Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.’ Alle anderen Gebote und alle Forderungen der Propheten gründen sich auf diese beiden Gebote» (Matthäus 22,36-40 NLB).

Mir scheint, dass Jesus hier noch einen draufsetzt und definiert, in welche Richtung wir agieren sollen: Gott, den Nächsten und uns selbst lieben. Jetzt bekommt unsere Aktion eine klare Kontur. Als erstes sollen wir Gott lieben. Der Kern der Bergpredigt ist das Gebet. Im Gebet pflegen wir die Liebe zu unserem himmlischen Vater. In dieser Begegnung wird unser Herz wiederum mit Liebe gefüllt, so dass wir uns diese dem Nächsten verschenken können. Es heisst: «Der tiefste Grund für unsere Zuversicht liegt in Gottes Liebe zu uns: Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat» (1Johannes 4,19 NGÜ). Beschenkt, um zu schenken. Die Freunde von Jesus fragten bei anderer Gelegenheit, wer denn ihr Nächster sei. Mit einem Gleichnis (Lukas 10,29ff) erklärt Jesus, dass nicht wir darüber entscheiden, sondern die Not des Menschen in meinem Umfeld. Die Not des Mitmenschen macht ihn zu meinem Nächsten.

Was für Nöte gibt es in meinem Umfeld? Ich denke an die Liste der Kranken, den tragischen Todesfall in unserem Dorf, die alleinerziehende Mutter, der entwurzelte Migrant, auf den niemand gewartet hat, der einsame Nachbar, das Paar, deren Ehe zerbrochen ist,... Laut Jesus sollen wir liebevoll aktiv werden und nicht warten, bis leidende Menschen uns um Hilfe bitten.

Manchmal gibt es Situationen, in denen wir in einer Gruppe von Menschen einsam sind. Es beschleicht uns das Gefühl, dass niemand auf uns gewartet hat. Es gibt Leute, die erleben das am Sonntag rund um den Gottesdienst. Du kannst heute Liebe üben, wenn du auf jemanden zugehst, der nicht zu deinen «Best Friends» gehört. Gehe nicht enttäuscht nach Hause, weil dich niemand angesprochen hat. Werde du aktiv! «Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen.» Wenn wir das in der seetal chile umsetzen, werden wir einen Kulturwechsel erfahren und echte Gemeinschaft erleben. Es wird sich niemand mehr «wie bestellt und nicht abgeholt» fühlen. Übrigens kennen die Migranten in unseren Dörfern das Gefühl, dass niemand auf sie gewartet hat, durch’s Band. Wenn nur jede zwanzigste Person von uns einem solchen Menschen das Gefühl des Willkommens-Sein vermitteln würde, hätten wir Himmel auf Erden.

Ich empfinde auch die aktuelle Situation rund um das Covid-Zertifikat als echten Härtetest für die Nächstenliebe. Auch hier gilt es, den anderen mit meiner Liebestat zu überbieten. Das, was ich gerne vom anderen erfahren würde, selbst zu tun. Die Einheit ist uns geschenkt. Wir müssen dafür kämpfen, sie zu verteidigen. Wenn wir zuerst einmal das Opfer bringen, das wir gerne vom anderen hätten, kommen wir nicht nur über die Runden, sondern wachsen zur neuen Reife!

Bei beiden Bibelstellen sind wir selbst die Referenz: «Geht so mit anderen um, wie die anderen mit euch umgehen sollen.» «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Wie stark liebst du dich selbst? Es könnte nämlich sein, dass du wenig Selbstachtung hast, und deshalb völlig anspruchslos bist, weil du denkst, dass du eh nichts Gutes verdient hast. Deshalb ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Goldenen Regel der Umgang mit dir selbst. Hast du ein ganzes Ja zu dir? Gibt es irgendwelche Leichen in deinem Keller, aufgrund derer du dich hasst? Gibt es Taten, die du dir selbst nicht vergeben kannst?

Für eine Metamorphose hinein in die Jesusähnlichkeit musst du dich selbst lieben. Ich rede nicht von Narzissmus. Der Narzissmus ist eine krankhafte Selbstverliebtheit, die bei sich selbst stehen bleibt. Wenn du kein ganzes Ja zu dir hast, dann solltest du unbedingt seelsorgerliche Hilfe in Anspruch nehmen. Erst, wenn du eine gute Beziehung zu dir selbst aufgebaut hast, lernst du deine eigenen Leidenschaften und Wünsche kennen.

 

Und wenn unsere Liebe enttäuscht wird? Wenn das, was wir Gutes tun, abgelehnt wird? Nun, es gibt keine Liebe zu anderen Menschen, die nicht das Risiko in sich trägt, enttäuscht zu werden. Das hat Gott selbst in Jesus erlebt. Jesus verkörperte, er lebte Gottes Liebe unter den Menschen, doch von massgeblichen Kreisen schlug ihm Hass entgegen. Dieser brachte Ihn ans Kreuz. So wird Jesus zum Bruder all jeder, deren Liebe zu anderen Menschen schon schmerzvoll enttäuscht worden ist. Jesus hat proaktiv und liebend gehandelt. Deshalb – und nur deshalb kann er uns das Heil und das übernatürliche Geschenk der Metamorphose anbieten!

 

 

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Matthäus 7,12; 22,36-40

  1. Kennst du den Stolperstein, dass man in der Unübersichtlichkeit und Komplexität wie gelähmt ist und nichts mehr tut? Wann passiert dir das?
  2. Was ist der Unterschied zwischen der negativ formulierten Redensweise und der positiven Formulierung von Jesus? Was ändert sich konkret?
  3. Wo liegt es an dir, proaktiv und liebend etwas zu tun?
  4. Liebst du dich selbst? Hast du ein ganzes Ja zu dir bezüglich deiner Geschichte, deines Charakters und deines Aussehens?
  5. Was wäre, wenn Jesus keine proaktive Liebe gelebt hätte?