Besiege das Böse mit Gutem

Datum: 3. November 2024 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Römer 12,14-21

Diese Predigt schliesst nahtlos an die letzten drei Predigten zum Thema Vergebung an. Der Grundsatz von Paulus lautet: «Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!» (Römer 12,21). Er belässt es aber nicht bei dieser allgemeinen Aussage, sondern offeriert uns fünf Möglichkeiten, wie wir das tun können. Schliesslich erfahren wir, wie Nachfolger von Jesus die Kraft und die Liebe haben können, so zu vergeben und ein solches Leben zu führen.


Im Oktober 2006 nahm ein bewaffneter Mann Geiseln in einem Schulhaus der Amischen in Pennsylvania. Er schoss auf zehn Kinder im Alter von sieben bis dreizehn Jahren, von denen fünf starben, und beging dann Selbstmord. Innerhalb weniger Stunden besuchten Mitglieder der amischen Gemeinschaft sowohl die unmittelbaren Familien des Mörders als auch seine Eltern und drückten ihnen ihr Mitgefühl aus. Die Amischen sprachen dem Mörder und seiner Familie einmütig Vergebung aus. Die Vergebung und Liebe, die dem Täter und seiner Familie entgegengebracht wurden, erstaunten viele.

Einige Jahre später schrieb eine Gruppe von Wissenschaftlern über den Vorfall und kam zu dem Schluss, dass einfache Appelle, mehr zu vergeben, in unserer Kultur unbeachtet bleiben. Unsere Kultur bringe keine Menschen mehr hervor, die mit Leid umgehen können, ohne Vergeltung zu suchen. Amerikaner würden auf Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung setzen und hätten ein ausgeprägtes Anspruchsdenken. Für die Amischen ist jedoch einer ihrer Grundwerte die Selbstverleugnung. Eine Ausprägung davon ist die Vergebung. Die Autoren schlussfolgern: «Die meisten von uns sind von einer Kultur geprägt worden, die Rache nährt und Gnade verspottet.» In einer solchen Kultur wird Vergebung als selbstschädigend angesehen. Rache und Zorn gelten als authentisch.

Die Amischen sind Teil der täuferischen Tradition, und viele ihrer Kirchen halten sie heute noch an das Dordrechter Glaubensbekenntnis (1632). Darin gibt es einen ganzen Artikel, der sich gegen das Ausüben der Rache wendet. Im Grunde geht es dabei um den Text aus Römer 12,14-21 mit der Hauptaussage: «Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!» (Römer 12,21 NLB). Es ist der Schlüssel zu einem friedvollen Miteinander – sei es in der kleinen Zelle (Ehe, Familie, Kirche) oder in der internationalen Staatengemeinschaft.

Wenn das Böse siegt

«Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!» (Römer 12,21 NLB). Besiegen ist ein militärisches Wort. In den aktuell tobenden Kriegen werden die Kampfhandlungen erst enden, wenn ein Sieger feststeht. Übrigens das griechische Wort für siegen heisst nike. Von diesem Wort hat die Sportartikelmarke ihren Namen. Das kann zu einer hilfreichen Gedankenstütze werden. Immer wenn du den Swoosh, das Logo von Nike siehst, kannst du dich daran erinnern, dass das Böse mit Gutem besiegt werden soll. Es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder man wird vom Bösen besiegt, oder man besiegt das Böse, indem man darauf mit Gutem reagiert. Wenn die Dinge den normalen Lauf dieser Welt nehmen, siegt das Böse.

Vom Bösen wird man besiegt:

  • Wenn man als Reaktion auf eine Verletzung oder Kränkung zurückschlägt oder den Wunsch hegt, dass der Verursacher ebenfalls geschädigt wird. In christlichen Kreisen geschieht das meistens nicht so offensichtlich, sondern eher subtil. Manchmal in sarkastischen Humor, in ironischen oder scharfzüngigen Bemerkungen oder in stiller Genugtuung, wenn dem anderen etwas misslingt.
  • Wenn es unsere Beziehung zum anderen zerstört. Die Gefahr besteht, dass wir nach einem Konflikt das «Kriegsbeil zwar vergraben», aber auch nicht mehr viel miteinander zu tun haben. Man begründet dies dann mit den Worten: «Man muss ja nicht mit allen beste Freunde sein.» Die Beziehung hat sich deutlich abgekühlt. Echte Vergebung beinhaltet jedoch den Wunsch nach Versöhnung und Wiederannäherung.
  • Wenn es unser Bild von uns selbst verzerrt. Wenn wir das, was wir erlebt haben, ständig in Gedanken wieder abspulen, fixieren wir uns darauf, was am anderen falsch ist und wie edel wir selbst im Gegensatz dazu sind. Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit mischen sich zu einem toxischen Cocktail. Das Empfinden, dass niemand weiss, wie sehr ich gelitten habe, macht mich anfällig für das Böse. Gelegenheiten, wenig Ehrenhaftes zu tun, werde ich nutzen, und damit rechtfertigen, dass ich mich damit nur selbst entschädige.
  • Wenn es durch uns dem Täter hilft, sein Handeln zu rechtfertigen. Eine Reaktion von Zorn oder Kälte gegenüber dem Schuldigen aufrechterhalten, kann ihm dies eine Rechtfertigung für sein Handeln liefern. Er kann dann denken, dass wir ein grausamer Mensch sind und das, was uns geschehen ist, uns ganz recht geschieht.

Leider gewinnt das Böse fortlaufend in unserer Welt. Während den Unruhen auf dem Balkan nach dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens wurde ein serbischer Soldat von der Kosovo-Befreiungsarmee gefangen genommen. In einem Fernsehinterview gab er freimütig zu, dass seine Militäreinheit ethnische Albaner getötet hatte. Er sagte jedoch: «Sie müssen verstehen [...], es war unsere Rache!» Auch die Kosovo-Befreiungsarmee selbst machte sich aus demselben Grund der Gewalt gegen ethnische Serben und Roma schuldig. Wie ein Albaner es ausdrückt, war es der «verständliche Wunsch nach Rache».

Wie das Gute siegt

Vor zwei Wochen erreichte uns von jemandem aus unserer Kirche folgende Frage: «Heute in der Predigt wurde erwähnt, dass Versöhnung auch ein Schritt aufeinander zu bedeutet. Wie kann ich das machen, wenn die andere Person weder meine Vergebung noch eine Annäherung annehmen möchte.» Paulus offeriert uns fünf Möglichkeiten, wie wir gerade in verfahrenen Situationen das Böse mit Gutem besiegen können:

  • Für den Schuldigen beten: «Segnet die, die euch verfolgen; segnet sie, verflucht sie nicht» (Römer 12,14 NGÜ). Segnen bedeutet vor allem, für die Täter zu beten – darum, dass Gott sie segnen möge. Man spricht dem anderen das Gute zu, das man sich für sich selbst auch wünscht. Es ist unmöglich, auf jemanden lange wütend zu sein, wenn man für ihn betet. Im Gebet wendet man sich als Sünder an Gott. Dabei wird jegliches Überlegenheitsgefühl abgebaut und wir identifizieren uns mit dem anderen.
  • Vergeben: «Vergeltet niemand Böses mit Bösem» (Römer 12,17 NGÜ). Vergeben ist die bewusste Abkehr von jeglichem Verlangen nach Vergeltung. Diese innere Vergebung, welche die persönliche Schuld zwischen uns streicht, gewähre ich jedem, der an mir schuldig geworden ist. Das schafft die Voraussetzung, den Täter nicht mehr aus Rache zu konfrontieren. Konfrontation ohne Rache – damit beginnt die Versöhnung.
  • Den Schuldigen nicht meiden: «Wenn es möglich ist und soweit es an euch liegt, lebt mit allen Menschen in Frieden» (Römer 12,18 NGÜ). Manche sagen: «Ich habe vergeben, aber ich will nicht mehr mit dieser Person zu tun haben.» In Wirklichkeit ist das eine Form der Vergeltung. Paulus empfiehlt uns, immer darum bemüht zu sein, eine Beziehung wieder anzuknüpfen. Vergebung bedeutet Versöhnung und Wiederannäherung.
  • Geben, was der andere braucht, soweit er es zulässt: «Mehr noch: ‘Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Ein solches Verhalten wird ihn zutiefst beschämen’» (Römer 12,20 NGÜ). Immer, wenn es eine Möglichkeit gibt, etwas für einen Menschen zu tun, der mich verletzt hat, soll ich es tun. Unser Generosität sollte aber niemals dazu führen, dass es dem andern leichtfällt, weiter zu sündigen. Vielleicht braucht es auch eine Konfrontation, um dem anderen zu helfen.
  • In der Haltung der Demut handeln: «Lasst euch im Umgang miteinander davon bestimmen, dass ihr ein gemeinsames Ziel habt. Seid nicht überheblich, sondern sucht die Gemeinschaft mit denen, die unscheinbar und unbedeutend sind. Haltet euch nicht selbst für klug» (Römer 12,16 NGÜ). Man kann auch vergeben, um sich damit moralisch über den anderen zu erheben. Vergebung ist ein Geschenk, das ein fehlerhafter Mensch, der selbst aus reiner Gnade gerettet ist, einem anderen sündigen Menschen macht. Wenn wir in Liebe und Demut handeln, besteht die grosse Chance, dass der andere versteht, dass es uns um ihn geht.

Woher die Kraft und Liebe kommt

Wie kann ein Nachfolger von Jesus die Kraft und die Liebe haben, so zu vergeben und ein solches Leben zu führen? Auch dazu gibt Paulus uns die Antwort: «Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es heisst in der Schrift: ‘Das Unrecht zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben’» (Römer 12,19 NGÜ). Als Nachfolger Jesu ist es unsere Aufgabe, so viel Gerechtigkeit zu erreichen, wie wir können, und den Rest Gott zu überlassen. In dieser Welt wird es keine umfassende Gerechtigkeit geben. Wir müssen das System um die transzendente Dimension erweitern.

«Ich werde Vergeltung üben», spricht der HERR. Diesen Satz verstehen wir gerne im Sinne von: «Überlass es Gott. ER wird es ihm schon heimzahlen, und zwar auf die harte Tour!» Dieses Verständnis ist grundlegend falsch. Wie jede Aussage der Bibel muss auch diese im Kontext verstanden werden. Niemals dürfen wir einem Menschen, der uns verletzt oder geschädigt hat, Schaden wünschen. Es meint auch keine zynische Passivität, sondern erfordert ein liebevolles Herz, das sich entschlossen weigert, jemandem aus dem Weg zu gehen, der uns Unrecht getan hat. Ein Herz, das bereit ist, ihm zu vergeben, ihm gegenüber freundlich und hilfreich zu sein, wo immer es möglich ist. Dies soll im gelassenen Wissen geschehen, dass es auf dieser Welt keine umfassende Gerechtigkeit möglich ist.

Wie wird die Vergeltung wohl aussehen, die Gott ausüben wird? In Jesus Christus kommt Gott in diese Welt und nimmt die gerechte Strafe selbst auf sich. Luther übersetzt V.19 mit «Die Rache ist mein». Das erinnert uns daran, dass Gottes Zorn, der auf uns hätte fallen sollen, auf ihn überging. Die Vergeltung, die uns treffen sollte, traf ihn. Auf dieser Welt wird es nie Gerechtigkeit geben. Jesus Christus schafft in dem Sinn Gerechtigkeit, dass er selbst die Gerechtigkeit ist: «[...] Denn Christus ist unsere Gerechtigkeit, durch Christus gehören wir zu Gottes heiligem Volk, und durch Christus sind wir erlöst» (1Korinther 1,30 NGÜ). Jesus ist unsere Gerechtigkeit. Jesus wird allen gerecht werden; dem der Unrecht tat, und dem der Unrecht erlitt.

Wenn wir ein Herz haben wollen, das ganz für Vergebung schlägt, das Böses mit Gutem überwindet, das sich nicht überlegen fühlt und es nicht nötig hat, sich zu rechtfertigen, dann müssen wir auf Jesus Christus schauen. ER nimmt die Vergeltung auf sich, die von Rechts wegen uns treffen sollte. Sie traf Ihn. ER hat sie auf sich genommen. Nur wenn wir einen König sehen, der freiwillig für uns als Diener handelt, werden wir Diener aufhören, uns wie kleine Könige und Richter aufzuspielen. Was uns wirklich verändern kann, ist der Blick auf Jesus, der im Sterben noch vergibt: «Vater, vergib diesen Menschen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lukas 23,34 NLB).

 

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Römer 12,14-21

  1. Erzählt fiktive oder wahre Begebenheiten, bei denen das Böse über das Gute siegt.
  2. Wie kann das Böse mit Gutem besiegt werden? Welche eigenen Erfahrungen hast du schon gemacht?
  3. Stehst du selbst in einer vertrackten Situation, bei der du im Versöhnungsprozess nicht weiterkommst. Was könnte der nächste Schritt sein?
  4. Welche der fünf von Paulus offerierten Möglichkeiten, Vergebung zu leben, findest du einfacher, welche schwieriger?
  5. «Der HERR wird Vergeltung üben.» Weshalb steckt in dieser Textpassage die Kraft und die Liebe, die wir für die Vergebung brauchen?