Karfreitag – Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Datum: 18. April 2025 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Psalm 88; Matthäus 27,33-50

Wir haben einen natürlichen Hang dazu, gerade als Nachfolger Jesu, über Trauer und Schmerz hinwegzutrösten und auf eine hoffnungsvolle Zukunft zu blicken. Gerade aber an Karfreitag wollen wir gemeinsam mit Jesus dem Schmerz Raum lassen und zusammen mit dem Psalmisten von Psalm 88 in der Klage und der Trauer ausharren.


Vor einigen Jahren habe ich mit meiner Schwägerin einen «Herr der Ringe» Marathon gemacht. Natürlich mit der extended Version. Das sind gut 12 Stunden vor dem Fernseher. Wir haben morgens um elf gestartet und uns jegliche Snacks, Getränke etc. so hergerichtet, dass wir möglichst kurze Unterbrechungen nur haben für Toilettenpausen und Pizzas in den Ofen schieben. Es sei für alle, die an diesem Punkt noch eine Bildungslücke aufweisen, hoffentlich nicht zu viel verraten, wenn ich sage, in den Filmen und dem Buch geht es schlussendlich um die Zerstörung eines Ringes, damit das Dunkle nicht an die Macht kommt. Das Ganze wird mit epischen Schlachten und berührenden Geschichten über Freundschaften untermalt. Wir waren also um 11 Uhr nachts ziemlich müde und vollgegessen bereit für das grosse Finale. Die letzte DVD mit den finalen 30 Minuten stand noch an. Voller Spannung erwarten wir, wie Frodo alle rettet, doch das unfassbare passiert. Die letzte DVD ist kaputt. Ja, ich habe erst Jahre später erfahren, wie die Geschichte ausgeht!

Wenn wir das Ende nicht kennen

Für alle, die mit der Bibel besser vertraut sind: Es ist, als würden wir das Neue Testament beginnen und bei Matthäus 27 aufhören zu lesen, nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist. Manchmal würde es uns vielleicht sogar guttun, dort innezuhalten und nicht gleich zu den Ostergeschehnissen zu springen, aber dazu später mehr. Persönlich könnte ich mir gut vorstellen, dass auch Juden eine ähnliche Spannung verspürt haben, wenn sie den Psalm 88 gelesen haben. Es gibt bei den Psalmen einige Klagepsalmen, also Psalmen, bei denen der Psalmist Gott sein Herz ausschüttet und seine Klage anbringt. Alle diese Psalmen weisen einen ähnlichen Aufbau auf. Sie beginnen in der Klage und enden im Lobpreis oder in Aussprüchen über Gottes Souveränität, Gnade und Treue. Zumindest fast alle. Der Psalm 88 tanzt dabei etwas aus der Reihe. Einerseits finde ich erstaunlich, dass nur ein Psalm bei der Klage ausharrt. Andererseits widerspiegelt es doch den Drang von uns, über den Schmerz hinwegzusehen und unseren Blick auf eine hoffentlich bessere Zukunft zu richten. Auf das Positive zu schauen ist an sich überhaupt nichts Schlechtes. Trotzdem ist es nicht immer angebracht. Einerseits aus dem einfachen Grund, weil wir einfach nicht wissen, ob diesseits der Ewigkeit alles gut werden wird. Auf der anderen Seite brauchen wir gerade in schwierigen Situationen oder nach schweren Schicksalsschlägen Zeit, um zu verarbeiten. Wir brauchen den Raum, in der Trauer einfach sein darf. Als «gute Christen» haben wir das Gefühl, wenn wir über unsere Trauer und unseren Schmerz sprechen, müssen wir gleich auch betonen, dass wir ja schon wüssten, dass Gott alles im Griff habe, schon wisse, was er tue und am Ende der Schmerz sicher für etwas gut sein würde. Wunderbar, wenn du in diesem Moment diese Hoffnung wirklich verspürst, aber schade, wenn es nur ein voreiliger Trost ist, der die Situation verharmlost und nur noch mehr Schmerz hervorbringt. Sei dies bei sich selbst oder wenn man mit anderen so umgeht. Ich habe meinen Mann mit fast 26 Jahren kennengelernt. Das ist jetzt nicht so alt, aber für mich bedeutete es eine extrem lange Wartezeit. Jegliche Freunde um mich haben sich verliebt, verlobt und geheiratet und ich hatte mir doch schon seit ich klein war so sehnlichst eine Familie gewünscht und gehofft jung Mutter zu werden. Wisst ihr wie viel es mir half, wenn glücklich Verheiratete so Dinge sagten wie «Du wirst ganz sicher den Richtigen finden!» oder «Das Warten lohnt sich, glaub mir!»? Nichts! Es half gar nicht. Das hinterlässt nur noch mehr Schmerz.  

Der Weg von Jesus

Jesus wählt einen ganz anderen Weg. Besonders klar wird das sichtbar in Johannes 11. Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs und bekommt die Nachricht, dass Lazarus, sehr krank sei. Anstatt direkt zu ihm zu gehen, wartet Jesus ab. Als er nach drei Tagen doch aufbricht und in Betanien, wo Lazarus mit seinen Schwestern (ebenfalls Freunde von Jesus) lebte, ankommt, ist Lazarus bereits tot. Aus dem Kontext wird klar, Jesus weiss von Anfang an, dass er Lazarus von den Toten auferwecken wird und gegen Ende des Kapitels lesen wir, dass sich dies bewahrheitet hat. Darauf will ich hier aber nicht genauer eingehen. Wir wollen uns anschauen, wie die Menschen reagiert haben und wie Jesus reagiert hat. Wir lesen in den Versen 18 und 19 «Betanien war nur wenige Kilometer von Jerusalem entfernt, und viele Leute waren gekommen, um Marta und Maria ihr Beileid auszusprechen und sie über den Verlust ihres Bruders zu trösten.» (Johannes 11,18-19 NLB). Eigentlich klingt das ja nicht so schlecht. Die Zu beachten ist jedoch, dass es in der jüdischen Kultur einfach dazugehörte, zu der Trauerfamilie zu gehen und sie zu trösten, ähnlich wie heute. Entfernung, die im Urtext genannt wird, sind keine drei Kilometer. Dass in der Bibel vermerkt ist, die mittrauernden Juden hätten gerade einmal eine halbe Stunde Weg zu Fuss auf sich genommen, ist wahrscheinlich ebenfalls kein Zufall. Es steht im Kontrast zu dem, wie Jesus handelt. «Als Jesus die weinende Maria und die Leute sah, die mit ihr trauerten, erfüllten ihn Zorn und Schmerz. ‘Wo habt ihr ihn hingelegt?’, fragte er. Sie antworteten: ‘Herr, komm mit und sieh.’ Da weinte Jesus.» (Johannes 11, 33-35 NLB). Jesus versucht sie nicht wie die anderen Juden über den Verlust hinweg zu trösten. Er weckt Lazarus auch nicht direkt von den Toten auf. Er trauert mit Maria. Jesus lässt sich von ihrem Schmerz bewegen und weint! Wie vermessen ist es dann von uns, immer allzu schnell über Trauer und Schmerz hinweg trösten zu wollen? Auch wenn es für uns manchmal befremdlich ist, wir lieber Ostern feiern als am Karfreitag zu trauern, darf Klage und Schmerz seinen Platz haben. Wir werden im Anschluss an die Predigt den Psalm 88 noch als Lied von Tanja hören. Ich möchte an dieser Stelle drei Dinge hervorheben, die wir von diesem Psalm lernen können. Erstens, der wahrscheinlich wichtigste Punkt: Der Psalmist ist wütend und enttäuscht von Gott und doch ist Gott derjenige, an den er sich wendet. Und auch bei der Geschichte von Lazarus laufen Marta und Maria zu Jesus, wenn auch erstmal mit Vorwürfen. Es ist vielleicht nicht schön, wenn das eigene Kind einem Vorwürfe macht oder wütend anschreit. Noch viel schwieriger ist es aber, wenn sich das Kind zurückzieht und nicht mehr mit einem spricht. Ich glaube Gott wünscht sich so sehr, dass wir zu ihm kommen mit unserer Wut und Ärger und uns in den dunklen Zeiten nicht von ihm abwenden. Zweitens sagt der Psalmist ungefiltert Gott seine Meinung. Wir wissen nicht genau, was seine Umstände sind, jedoch können wir ahnen, dass er wahrscheinlich etwas übertreibt, wenn er in Vers 4 bspw. sagt «Denn mein Leben besteht aus Schmerzen und Leid, ich bin dem Tode nah.» (Psalm 88,4 NLB). Noch viel klarer jedoch ist der Sarkasmus Gott gegenüber. «Was nützen deine Wunder den Toten? Stehen sie etwa auf und loben dich? Verkündet man im Grab deine Gnade, wird bei den Toten deine Treue gerühmt? Kann die Finsternis deine Wunder erzählen oder wird etwa im Land des Vergessens deine Gerechtigkeit gelobt?» (Psalm 88, 1-13 NLB). Offensichtlich scheint dies Gott jedoch nicht weiter zu stören. Er toleriert die unangemessene, aber ehrliche Offenlegung der Gefühle des Psalmisten. Nochmals: besser du kommst mit einer unangebrachten Klage zu Gott als du wendest dich von ihm ab. Drittens gipfelt der Psalm, wie schon erwähnt, nicht im Lob oder im Ausspruch der Souveränität Gottes. Im letzten Vers lesen wir «Du hast mir meine Freunde und Verwandten genommen; alles, was mir jetzt noch bleibt, ist Finsternis.» (Psalm 88,19 NLB). Ich würde behaupten genau darin gipfelt meist auch unser tiefster Schmerz.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Und mit diesem Punkt möchte ich enden. Sei es beim Verlust eines geliebten Menschen, bei einer unerfüllten Sehnsucht, bei einer psychischen oder physischen Erkrankung, am Ende ist es der grösste Schmerz, sich darin so unglaublich allein zu fühlen. Von den Menschen fühlt man sich missverstanden, von Gott im Stich gelassen. So oft denken wir dann, Gott kann genau diesen Schmerz nicht verstehen. Jesus hat viele Schmerzen und Leid erlitten, aber wie man selbst sich gerade fühlt und wie einsam man dabei ist, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Das stürzt einen noch tiefer in diese Einsamkeit. Wo finde ich halt im freien Fall, wenn nicht einmal Gott den Schmerz versteht. Ich glaube aber in der Geschichte von Karfreitag finden wir Hoffnung, dass Jesus genau diesen tiefsten Schmerz der Einsamkeit, dieser Schmerz sich von den Menschen und von Gott verlassen zu fühlen, vollkommen nachempfinden kann. Er ruft aus tiefstem Herzen, bevor er stirbt: «Eli, Eli, lama asabtani? - Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?». Es kann sein, dass es heute dran ist, dir selbst einzugestehen, dass du den Schmerz, den du gerade fühlst, fühlen darfst und dich nicht selber billig und voreilig darüber hinwegtrösten musst. Vielleicht geht es dir aber auch gerade sehr gut, aber du hast eine Person in deinem Umfeld, die keine tröstenden Worte gerade braucht, sondern jemand, der mit ihr gemeinsam weint und die Trauer zulässt. Was aber mit Sicherheit am heutigen Tag dran ist, dass wir unseren Blick nicht schon auf Ostern richten, sondern gemeinsam mit Jesus dem Schmerz von Karfreitag Raum lassen. Aus diesem Grund möchte ich hier Ausschnitte von der Kreuzigung Jesu lesen.

«Dann zogen sie hinaus zu einem Ort namens Golgatha, das heißt Schädelstätte. Die Soldaten gaben ihm (Jesus) Wein, der mit bitterer Galle vermischt war, doch als er ihn schmeckte, weigerte er sich, ihn zu trinken. Nachdem sie ihn ans Kreuz genagelt hatten, würfelten die Soldaten um seine Kleider. Dann setzten sie sich um das Kreuz und hielten Wache. Über seinem Kopf wurde eine Tafel angebracht, auf der stand, was ihm vorgeworfen wurde: ‘Dies ist Jesus, der König der Juden.’ […] Die Leute, die vorübergingen, beschimpften und verhöhnten ihn: ‘So! Du kannst also den Tempel zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen? Nun, wenn du der Sohn Gottes bist, dann rette dich doch selbst und steig vom Kreuz herab!’ Die obersten Priester, Schriftgelehrten und Ältesten verspotteten Jesus ebenfalls. ‘Anderen hat er geholfen’, höhnten sie, ‘aber sich selbst kann er nicht helfen! Wenn er wirklich der König Israels ist, dann soll er doch vom Kreuz herabsteigen. Dann werden wir an ihn glauben! Er hat Gott vertraut – nun soll Gott zeigen, dass er zu ihm steht, indem er ihn verschont! Er hat ja behauptet: ›Ich bin der Sohn Gottes.‹’ […] Um die Mittagszeit wurde es plötzlich im ganzen Land dunkel – bis drei Uhr. Gegen drei Uhr rief Jesus mit lauter Stimme: ‘Eli, Eli, lama asabtani?’, das bedeutet: ‘Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ […] Da schrie Jesus noch einmal und starb.» (Matthäus 27,33-50 NLB).