Datum: 6. Juni 2021 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Matthäus 5,38-42

Viele meinen, dass das Motto «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ein sehr anarchisches und blutrünstiges sei. Das Gegenteil ist der Fall: diese Weisung diente als Vorgabe der öffentlichen Gerichte und half, das Böse einzudämmen. Jesus spricht anschliessend den persönlichen Umgang unter seinen Nachfolgern an. Dort sollen Tugenden wie Sanftmut und Grossmut gefördert werden. Es gibt eine klare Differenzierung zwischen der Aufgabe des Staates und dem persönlichen Umgang mit Konflikten.


Ein Sandkastenszenario könnte folgendermassen aussehen: Jonas stiehlt Lars, seinem Nachbarsjungen, der mit ihm zusammen im Sandkasten spielt, die kleine Schaufel. Dieser lässt sich das nicht bieten und entreisst seinem Freund den Bagger. Der Konflikt schaukelt sich hoch. Jonas zerstört die Brückenkonstruktion, die Lars gebaut hat, bis schlussendlich die wunderschöne Sandburg in Trümmer liegt. Konflikte haben die Tendenz, sich hochzuschaukeln, ähnlich wie im Lied von Mani Matter, in dem das Szenario vorkommt, dass aus dem Anzünden eines Zündholzes sich ein Weltkrieg ergeben könnte.

Die Rache hat die Tendenz zur Eskalation. Lamech erklärt vollmundig seinen zwei Frauen, dass er eine Person, die ihn auch nur leicht verletze, gleich umbringen würde. «Wenn Kain siebenfach gerächt wird, so soll Lamech siebenundsiebzigfach gerächt werden!» (1Mose 4,24 NLB). Ob er damit seine Frauen beeindrucken konnte?

Regelung vor dem öffentlichen Gericht

«Ihr habt gehört, dass es im Gesetz von Mose heisst: ‘Wer jemand am Auge verletzt, soll selbst am Auge verletzt werden. Und wer anderen einen Zahn ausschlägt, soll selbst einen Zahn dafür einbüssen’» (Matthäus 5,38 NLB). Was man immer wieder hört, ist: «Auge um Auge, das ist das barbarische Motto, die jüdische Vergeltungspraxis des Alten Testaments. Für uns Christen gilt das neutestamentliche Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!» Dadurch wird das Christentum gegen das Judentum ausgespielt. Zudem leitet man daraus unter anderem die Auffassung ab, dass Christen keinen Widerstand leisten sollen, und der Pazifismus wird glorifiziert. Das entbehrt jeder Grundlage.

Jesus greift bei dem Prinzip «Auge um Auge, Zahn um Zahn» auf drei Bibelstellen der Tora zurück. Wenn man diese Texte unvoreingenommen liest, wird klar, dass es hier nicht um Vergeltung, sondern um Schadenersatz geht. Alle Texte handeln von der öffentlichen Gerichtsverhandlung, es wird staatliches Recht definiert. Um die Juden herum lebten damals heidnische Völker, die mit Blutrache reagierten. Eines der Grundprinzipien der Tora war, Recht und Gerechtigkeit zu etablieren. Die Strafe für ein Verbrechen wird so präzise wie möglich benannt und die Entschädigung für das Opfer wird begrenzt. Das Augenmerk von «Auge um Auge» liegt darauf, dass man nicht mit «doppelter Münze» für den Schaden bezahlen muss.

Es handelt sich hier also um die öffentliche Regelung des Rechts und nicht um persönliche Rache. Die Strafe soll nicht höher sein als die Übertretung. Der Staat kann auf Strafe zum Schutz seiner Bürger nicht verzichten. Ein Dulden gegenüber dem Aggressor zerstört die Gesellschaft. Es war niemals die Absicht von Jesus, die Rechtsbasis der Tora in Frage zu stellen. Er redet weder dem Anarchismus noch dem Pazifismus das Wort.

Vor ein paar Jahren führten wir einen Talk mit Susanne Geske. Ihr Mann wurde zusammen mit zwei weiteren Männern von fünf jungen türkischen Männern drei Stunden lang gefoltert und brutal ermordet. An fast 100 Gerichtsverhandlungen hat sie die Täter immer wieder gesehen. Am Fernseher sagte sie: «Ich wünsche für diese fünf jungen türkischen Männer, dass Gott ihnen vergebe, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Ein Journalist habe darauf geschrieben: «Mit diesem einen Satz hat sie mehr gesagt, als tausend Missionare in tausend Jahren sagen können.» Es ist bewundernswert, dass diese Frau gesagt hat, dass Gott den Männern vergeben möge, obwohl sie etwas Furchtbares getan haben. Aber es ist genauso richtig, dass die türkische Regierung diese Männer zur Verantwortung zieht und bestraft. Der Staat ist für das öffentliche Recht zuständig und muss es durchsetzen. Wir sollen uns jedoch nicht persönlich rächen und Personen verabscheuen, niedermachen oder zerstören.

Regelung unter den Nachfolgern Jesu

«Ich aber sage: Wehrt euch nicht, wenn euch jemand Böses tut! Wer euch auf die rechte Wange schlägt, dem haltet auch die andere hin» (Matthäus 5,39 NLB). Nun spricht Jesus darüber, wie es unter seinen Nachfolgern funktionieren soll. Es geht nun also um persönliche Fehden im privaten Umgang. Paulus wundert sich, dass es in Korinth Leute gab, die ihren Streit mit einem anderen Gemeindeglied vor einem weltlichen Gericht austragen (1Korinther 6,1). Nach kurzer Abhandlung kommt er zur Quintessenz: «Dass ihr überhaupt gegeneinander vor Gericht zieht, ist schon eine Niederlage für euch alle. Warum seid ihr nicht bereit, euch Unrecht zufügen zu lassen? Warum könnt ihr es nicht ertragen, wenn jemand sich auf eure Kosten bereichert?» (V.7 NLB). Jesus schlägt hier in eine ähnliche Kerbe.

«Wer euch auf die rechte Wange schlägt, dem haltet die andere hin». Eine normale Ohrfeige mit der rechten Hand trifft die linke Wange. Jesus meint die Ohrfeige mit dem Handrücken. Ein Mensch, der das tut, ist innerlich sehr aggressiv. Aber er will seine Aggression nicht zeigen – sonst würde er mit der Faust schlagen – weil er dadurch sein Gesicht verlieren würde. So etwas macht man nicht im Affekt, sondern mit voller Berechnung. Entsprechend wird in der Mischna die Strafe für den Schlag mit dem Handrücken doppelt so hoch bestraft wie ein Faustschlag.

Jesus fragt eigentlich: Wie soll ein Mensch reagieren, wenn er so beleidigt wird? Wie löst man Konfliktsituationen mit seinem Nächsten richtig? Laut Jesus dürfen wir unserem Nächsten nicht den Krieg erklären. Die Aufforderung, die linke Wange hinzuhalten ist nichts anderes als ein Bild für das Austragen des Konflikts, genauso wie das Schlagen auf die rechte Seite ein Bild für eine ungerechte Handlung ist. Die hingehaltene linke Backe zwingt den Peiniger, seine Aggressionen zu überdenken.

Wenn dich jemand mit einem Tritt ins Schienbein beleidigt (Ohrfeige mit dem Handrücken), dann bringe die Sache auf den Tisch, damit der andere Stellung beziehen muss und so sein Zorn ans Licht kommt (biete ihm die linke Wange an). Das ist die Lösung des Konflikts innerhalb der Gemeinschaft, um nicht vor Gericht zu ziehen.

Wie reagieren wir, wenn wir ungerecht behandelt werden? Wenn wir uns von unseren Gefühlen leiten lassen, dann dann können wir sehr böse werden. In diesem Fall denken wir kaum «Zahn um Zahn», sondern würden dem Gegner gern den Kopf abreissen: Kopf um Zahn. Wenn wir uns dagegen vom Geist leiten lassen und unsere Gefühle kontrollieren, können wir dem Gegner als Antwort das konstruktive Gespräch anbieten. Das entspricht dem Hinhalten der anderen Backe. Dadurch wird der andere seiner Aggression entwaffnet. Und nachdem im Gespräch die Emotionen ausgesprochen wurden, kann man versuchen, die Einheit wiederherzustellen. Dies hat schon der weise Salomo empfohlen: «Eine freundliche Antwort besänftigt den Zorn, kränkende Worte erregen ihn» (Sprüche 15,1 NLB). Und Paulus sagt: «Seht zu, dass niemand Böses mit Bösem vergilt, sondern versucht immer, einander und auch allen anderen Gutes zu tun!» (1Thessalonicher 5,15 NLB). Im hohen Lied der Liebe lernen wir ebenfalls, dass dulden und lieben zusammengehören: «Die Liebe duldet alles» (1Korinther 13,7 NLB).

«Wenn ihr vor Gericht erscheinen müsst und euer Hemd wird euch abgenommen, gebt euren Mantel noch dazu» (Matthäus 5,40 NLB). Im Alten Israel musste der Schuldige ein Pfand hinterlegen. Die armen Leute hinterlegten am Tag ihren Mantel und in der Nacht ihr Hemd. Es gab aber Menschen, die sich weigerten, ihr Pfand abzugeben. Jesus sagt: Man muss seinen Gegner nicht unnötig provozieren und sollte diese Regel akzeptieren.

Eigentlich geht es hier um die Einstellung zu materiellem Besitz. Jesus fordert heraus, auf das eigene Recht zu verzichten. Die jüdische Tradition kennt eine solche Art von Gerechtigkeit: Eine vierfache Gesinnung gibt es unter den Menschen: Wer sagt: «Das Meine ist mein und das Deine ist dein», das ist die Art der Mittelmässigen. [...] «Das Meine ist dein und das Deine ist mein», das ist die Art des Gesetzesunkundigen. «Das meine ist dein und das Deine ist dein», das ist der Fromme. «Das Deine ist mein und das Meine ist mein», das ist der Frevler.

Dem anderen das Seine zu gönnen und gleichzeitig freigiebig mit dem Eigenen zu sein, das ist die Einstellung eines Nachfolgers Jesu. Aufgrund gegenteiliger Erfahrung ist folgendes Sprichwort entstanden: «Am Geldbeutel hört das Christsein auf!»

«Wenn jemand von euch verlangt, eine Meile weit mit ihm zu gehen, dann geht zwei Meilen mit ihm» (Matthäus 5,41 NLB). Gestern fanden in unserem Bistro das Segnungsfest und die Hochzeit einer eritreischen Familie statt. Seit einiger Zeit wurden wir so etwas wie Bezugsfamilie für sie. Da sie finanziell sehr bescheiden leben müssen, bot ich ihnen das Bistro zur Durchführung des Festes gratis an. So weit so gut. Doch plötzlich fragten sie mich, ob ich am Samstagmorgen um 5:00 Uhr mit ihnen nach Heiden AR fahre, weil dort die Kirche sei, wo sie gesegnet werden. Will ich so viel Zeit und Kosten investieren? Als ich diesen Dienst annahm, wusste ich noch nicht, dass es heute um die zweite Meile geht.

Die römischen Soldaten hatten für sich das Recht beansprucht, andere Menschen zu nötigen, mit ihnen zu gehen, um ohne Gegenleistung etwas Schweres zu tragen. Das berühmteste Beispiel ist Simon von Kyrene, der genötigt wurde, Jesus das Kreuz nachzutragen, obwohl er soeben ermüdet vom Acker kam (Markus 15,21). Jesus möchte uns mit diesen Worten sagen: Nicht die Frustration über die Diskriminierung, sondern die bessere Gerechtigkeit soll uns motivieren, über das Minimum hinaus eine zweite Meile zu gehen. Auch staatlichen Machtträgern sind wir das Zeugnis duldender Liebe schuldig. Wie armselig ist demgegenüber ständige Kritik am Staat, an denen sich nicht selten auch die Christen beteiligen.

«Gebt denen, die euch bitten, und kehrt denen nicht den Rücken, die etwas von euch borgen wollen» (Matthäus 5,42 NLB). Will Jesus uns verpflichten, von unserem materiellen Gut jedem zu geben, der uns bittet? Vielleicht kauft der andere damit Alkohol oder andere Drogen. Haben wir nicht gelernt, den Bettlern nichts zu geben? Jesus legt folgende Bibelstelle aus: «Gebt gerne, ohne zu klagen. Dann wird euch der Herr, euer Gott, bei allem, was ihr tut, segnen. Es wird immer Arme im Land geben. Deshalb befehle ich euch, den armen und bedürftigen Israeliten gegenüber freigiebig zu sein» (5Mose 15,10f NLB). Es handelt sich also nicht um Bettel oder leichtsinniges Anpumpen, sondern um Hilfe in der Not. Und – lieber sich einmal zu Gunsten des Bedürftigen täuschen als immer nur zu meinen Gunsten.

 

In der Bergpredigt geht es um Tugenden und Charakter. In den letzten Wochen ging es um Gelassenheit und Sanftmut, Selbstbeherrschung, Treue und Liebe, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit und heute um Grossmut und Sanftmut. All dies sind Tugenden, die wir bei Gott finden und die seinen Charakter ausmachen. Wenn Christus in uns lebt und Raum bekommt, dann werden wir in sein Bild verwandelt. Und zwar genau an den Punkten, die wir ins Visier nehmen. Gott arbeitet nicht an uns vorbei!

 

 

 

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Matthäus 5,38-42; Römer 12,17-21

  1. Lest Römer 12,17-21 und vergleicht diese Stelle mit dem Predigttext. Was fällt auf?
  2. Was würde passieren, wenn der Staat in seinen Gerichten nach Matthäus 5,39 handeln würde?
  3. Gesetzten Falles, du würdest die Verse 39-42 einhalten: Was macht dieser Gedanke mit dir? Was für Auswirkungen hätte das auf dein Umfeld?
  4. Was bedeutet es konkret, die «linke Wange» hinzuhalten. Für was steht das Bild? Ist dieses Konzept umsetzbar?
  5. Die Liebe duldet alles (1Korinther 13,7). Was soll man im Leben dulden? Was nicht?