Von erdrückender Schuld befreit

Datum: 6. Oktober 2024 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Matthäus 18,23-27

Ein Nachfolger Jesu zu sein bedeutet, ein Leben der beständigen Vergebung zu führen. Die Parabel eines beim König überschuldeten Mannes lehrt uns die Grundsätze der Vergebung. In der Person des Königs tut Gott vier Dinge – er bringt den hoffnungslos verschuldeten Mann vor sich, hat dann aber Mitleid mit ihm, vergibt ihm die Schuld und lässt ihn frei. Der König kann dies nur tun, weil er bereit ist, die Schulden selbst zu übernehmen. Das hat Gott in der Person von Jesus Christus eindrücklich für alle Menschen getan. Die Erfahrung dieser aussergewöhnlichen Liebe Gottes ist der Dosenöffner für ein verändertes Leben der Liebe und Grosszügigkeit.


Im christlichen Wochenmagazin IDEA las ich diese Woche in der Ausgabe 38.2024 folgende Geschichte: Zehn Monate nach einem Kopfschuss auf einen US-Strassenprediger hat dieser dem unbekannten Täter öffentlich vergeben. Der zweifache Vater Hans Schmidt (27) äusserte sich zusammen mit seiner Ehefrau Zulya gegenüber dem lokalen Fernsehsender ABC15 […] Laut Zulya Schmidt zeigte im Krankenhaus eine Computertomografie, dass eine Kugel im Gehirn ihres Mannes steckt. Sie habe Gott angefleht, ihren Mann zu verschonen. Überraschenderweise habe er nach einem Monat wieder begonnen zu sprechen und sich allmählich erholt. […] Die Polizei konnte den Schützen bislang nicht finden. Dazu erklärte Schmidt, dass er keinen Groll gegen ihn hege: «Ich denke, es ist wichtig, Menschen zu vergeben. Und ich vergebe ihm.»

Diesen Monat befassen wir uns in der seetal chile dem Thema der Vergebung. Ein Nachfolger Jesu zu sein bedeutet, ein Leben der beständigen Vergebung zu führen. Im Vaterunser-Gebet bitten wir: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern» (Matthäus 6,12 LUT). Es ist das einzige Thema des Gebets, das Jesus anschliessend vertieft: «Wenn ihr denen vergebt, die euch Böses angetan haben, wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr euch aber weigert, anderen zu vergeben, wird euer Vater euch auch nicht vergeben» (Matthäus 6,14f NLB). Entgegen dem ersten Eindruck sagt Jesus nicht, dass Gottes Vergebung auf unserer Vergebung für andere beruht oder durch sie verdient wird. Nein, es ist Gottes Vergebung für uns, die die Motivation und die Kraft für unsere Vergebung für andere liefert.

Die Grösse unserer Schuld

Das Gleichnis des uneinsichtigen Schuldners (Matthäus 18,21-35) soll das Gerüst der nächsten Predigten bilden. In dieser Erzählung rechnet ein König mit seinen Bediensteten ab. Unter ihnen ist einer, der dem König 10’000 Talente schuldet. Das sind umgerechnet 3,48 Milliarden Dollar. Das Talent war die grösste Währungseinheit im Reich, und Zehntausend war die höchste Zahl, für die es in der griechischen Sprache ein eigenes Wort gab. Jesus spricht von einer grenzenlosen, nicht zu bemessenden Schuld.

Der in den Kulturen des Altertums übliche Weg, um mit einem Bankrott umzugehen, war, den Schuldner zum Sklaven zu machen, und so fordert der König: «Er, seine Frau, seine Kinder, und alles, was er besass, sollten verkauft werden, um damit seine Schuld zu begleichen» (Matthäus 18,25 NLB). Aufgrund der Bitte des Dieners, geschieht etwas Grossartiges: «Doch der Mann fiel vor ihm nieder und bat ihn: ›Herr, hab doch Geduld mit mir, ich werde auch alles bezahlen.‹ Da hatte der König Mitleid mit ihm, liess ihn frei und erliess ihm seine Schulden» (Matthäus 18,26f NLB).

Dieser hochverschuldete Mann steht für einen Menschen, wie du und ich es auch sind. Der König ist Gott. Der Schuldner stellt keinen kriminellen Einzelfall dar, sondern zeichnet unsere aller Situation vor Gott. Unsere Schuld vor Gott sprengt das Gefüge der weltlichen Realitäten. Hoffnungslos. Keine Chance auf Wiedergutmachung. Die gewaltigen Höhen des Mount Everest und die Tiefen des Pazifischen Ozeans sind für uns, die wir auf diesem Planeten leben, sehr eindrucksvoll. Genauso beurteilen wir die Schuldhaftigkeit verschiedener Menschen; da gibt es sehr tugend- und sehr lasterhafte Menschen. Vom Mars aus gesehen haben die gewaltigen Höhenunterschiede keinerlei Bedeutung. Die Oberfläche der Erde ist vergleichsweise glatter als die einer Billardkugel. Genauso geringfügig sind die Unterschiede unter uns Menschen. Aus der Sicht eines heiligen und vollkommenen Gottes, sind wir alle genau gleich: hundertprozentig auf seine Gnade angewiesen.

Der Unterschied zwischen dem Schützen im Eingangsbeispiel und mir als Pastor ist aus der Sicht eines heiligen Gottes nicht erkennbar. Die Schuld eines jeden Menschen ist riesig und unbezahlbar. «Denn alle Menschen haben gesündigt und das Leben in der Herrlichkeit Gottes verloren» (Römer 3,23 NLB). Der Mann in der Parabel bittet um Geduld, bis er alles zurückbezahlt hat. Das würde länger als 348’000 Jahre dauern. Viele Menschen sind ebenfalls Gott gegenüber auf dem Rückzahlungstrip. Sie denken, dass wenn sie sich moralisch anstrengen, in der Kirche mitmachen und Almosen geben, sie mit Gott ins Reine kommen können.

Der Preis der Vergebung

«Da hatte der König Mitleid mit ihm, liess ihn frei und erliess ihm seine Schulden» (Matthäus 18,27 NLB). Das griechische Wort, das im Neuen Testament am häufigsten für Vergebung verwendet wird, heisst aphesis und bedeutet Erlass. Es kann eine Amnestie oder einen Steuererlass bezeichnen. Das Konzept des Erlasses deutet darauf hin, dass Vergebung immer einen Preis hat. Jemandem seine Schulden zu erlassen, bedeutet, die Schulden selbst zu übernehmen. Wenn ein Freund unser Auto leiht, es rücksichtslos zu Schrott fährt und nicht in der Lage ist, den Schaden zu übernehmen, kann ich sagen: «Ich vergebe dir», aber der Preis für das Unrecht löst sich nicht in Luft auf. Entweder treibe ich das Geld auf, um ein neues Auto zu kaufen, oder ich verzichte auf ein Auto. Vergebung ist also eine Weise, freiwillig Leid auf sich zu nehmen, anstatt dass man den andern leiden lässt.

Was ist der Preis für die Schuld des Menschen vor Gott? Er könnte doch einfach einen Schwamm nehmen und den Betrag löschen. Dieser Meinung war Heinrich Heine: «Gott wird mir vergeben, das ist sein Job.» Dem ist aber nicht so, denn Gott ist heilig. Es wäre billige Gnade. Paulus beschreibt hingegen teure Gnade: «Denn er hat uns aus der Macht der Finsternis gerettet und in das Reich des geliebten Sohnes versetzt. Gott hat unsere Freiheit mit seinem Blut teuer erkauft und uns alle unsere Schuld vergeben» (Kolosser 1,13f NLB). Vergebung bedeutet immer, dass jemand an der Stelle des Schuldners freiwillig Leid auf sich nimmt. Wir Menschen stehen in der Gefahr, die Grösse unserer Schuld vor Gott zu verniedlichen. Doch wenn wir Jesus am Kreuz betrachten, wie er im Garten Gethsemane Blut schwitzte, wie sie ihm die Dornenkrone aufsetzten, wie sie die Nägel durch seine Hände und Füsse trieben, wie er langsam unter Atemnot und Blutverlust starb, dann sehen wir die Grösse unserer Schuld. Meine Schuld vor Gott ist so schlimm, dass er sie nur mit seinem Leben tilgen konnte. Jesus kann uns Vergebung anbieten, weil er freiwillig Leiden auf sich nahm. Sören Kierkegaard bringt die Tiefe der Vergebung treffend auf den Punkt: «Wir sind verlorener, als wir zugeben wollen, und wir sind tiefer erlöst, als wir es zu hoffen wagen.»

Gottes Vergebung erfahren

In der Person des Königs tut Gott vier Dinge – er bringt den Mann vor sich, hat dann aber Mitleid mit ihm, vergibt ihm die Schuld und lässt ihn frei. Der Mann wird zunächst vor den König gebracht. Dann wird die eigentliche Schuld benannt. Vergebung beginnt damit, dass man die Wahrheit sagt, dass man seine Schuld offenlegt, anstatt sie mit Ausreden oder Halbwahrheiten zu vertuschen. Aber dann hat der König Mitleid mit ihm (V.27). Das Wort für Mitleid stammt vom hebräischen Wort Rachamin (Barmherzigkeit, Mitgefühl), welches von Rechem (Gebärmutter) abgeleitet ist. Gottes Mitgefühl mit uns Menschen wird mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind verglichen. Diese unfassbare Barmherzigkeit ist die Triebfeder für Gottes Vergebung. Gott empfindet für dich ähnlich wie eine Mutter für ihr Kind. Und so kommt es zum Schuldenerlass und zur Freiheit für den Ex-Schuldner. Das bedeutet, dass die Beziehung zwischen dem Mann und dem König wiederhergestellt ist. Der Mann ist nicht länger ein Schuldner, der das Vertrauen des Königs missbraucht, sondern ein Bürger und Diener. Durch Umkehr und Glaube kann jeder Mensch Vergebung von Gott erfahren. Dadurch wird die Beziehung wiederhergestellt; er bekommt das Recht Kind Gottes zu werden.

Die Erfahrung der schier unglaublichen Vergebung steht am Ursprung kraftvoller Auswirkungen. Folgende Aussage von Jesus belegt das: «Ich sage dir, ihre Sünden – und es sind viele – sind ihr vergeben; also hat sie mir viel Liebe erwiesen. Ein Mensch jedoch, dem nur wenig vergeben wurde, zeigt nur wenig Liebe» (Lukas 7,47 NLB). Wie bereits deutlich gemacht, wurden jeder Person, die Jesus um Vergebung seiner Schuld gebeten hat, viele Sünden vergeben. Wenn einem diese Erfahrung fehlt, führt das dazu, dass wir weniger oder gar nicht fähig sind, anderen gegenüber Grossmut zu beweisen oder Vergebung zu gewähren. Daher ist es völlig unverständlich, dass der freie Mann bei nächster Gelegenheit einen Kollegen am Kragen packt, der ihm nur 100 Denare schuldet. Das ist Faktor 600’000 weniger als seine Schuld beim König war. Ich kann mir dies nur dadurch erklären, dass der gute Mann die teure Gnade des Königs nicht im Geringsten verstanden hat. Wenn wir nur ansatzweise verstehen, wie teuer Gottes Liebe zu uns ist, verändert das alles. Diese Erwartung hat auch der König: «Müsstest du da nicht auch mit diesem Diener Mitleid haben, so wie ich Mitleid mit dir hatte?» (Matthäus 18,33 NLB). Je mehr wir aus der Freude darüber leben, dass uns vergeben wurde, umso schneller werden wir anderen vergeben können.

Die Erfahrung dieser aussergewöhnlichen Liebe Gottes ist der Dosenöffner für ein verändertes Leben der Liebe und Grosszügigkeit. Es ist Ressource und Motivation, um anderen Menschen, die an mir schuldig geworden sind, zu vergeben. Die kostspielige Liebe Christi ändert alles. Das ist es, was mich verändert. Das bringt mich zu Tränen. Das ist Erstaunen. Das ist überfliessende Freude. Das ist elektrisierend. Es gibt nichts, was so sehr verändert. Es gibt keine Minderwertigkeitskomplexe mehr – weil ich so geliebt werde. Es gibt keine Überlegenheitskomplexe mehr – denn ich bin ein Sünder, der nur aus Gnade gerettet wurde. Das Verstehen dessen, was am Kreuz geschah, ist der Schlüssel zur persönlichen Verwandlung – und es ist der grosse Schlüssel zum Werk der menschlichen Vergebung und Versöhnung. Ich kenne die Motivation von Hans Schmidt, die ihn veranlasste, dem Schützen zu vergeben. Es würde mich aber nicht überraschen, wenn er die kostspielige Liebe von Jesus erfahren hätte.

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Matthäus 28,21-35

  1. Wie würdest du Vergebung mit eigenen Worten definieren?
  2. Warum braucht Jesus im Gleichnis vom König und dem Schuldner einen so unvorstellbar hohen Betrag, der nie abgearbeitet werden kann?
  3. Hast du die Vergebung durch den König Jesus erfahren? Was macht der Gedanke mit dir, dass deine Schuld ihm das Leben gekostet hat?
  4. Diese Vergebung basiert auf einer Barmherzigkeit und Liebe, wie sie ansatzweise bei einer Mutter zu ihrem Kind im Mutterleib vorhanden ist. Inwiefern bist du dir dieser Tatsache bewusst?
  5. Glaubst du auch, dass die Erfahrung einer solchen Vergebung elektrisierend ist, und die Grundlage aller Veränderung in der Nachfolge Jesu? Wie erlebst du das?