Riskante Liebe sucht und findet
Serie: EIFACH muetig – mit Jesus als Vorbild | Bibeltext: Lukas 15,1-7
Die religiöse Elite der damaligen Zeit nahm Anstoss daran, dass sich Jesus mit Menschen von schlechtem Ruf abgab und Gemeinschaft mit ihnen lebte. Sie glaubten, dass ‘Reines’ vom ‘Unreinen’ geschieden werden muss. Jesus reagiert auf diese Anschuldigungen, indem er das Gleichnis eines Hirten erzählt, der neunundneunzig Schafe zurücklässt, um das eine verlorene zu suchen. Die Freude über das eine Schaf, das sich finden liess und umkehrte, war sowohl in der sichtbaren wie auch unsichtbaren Welt riesig.
Eigentlich schade, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten überhaupt nicht mit Jesus klarkamen. Beide Parteien wollten nur Gottes Wille tun. Der Unterschied bestand darin, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten glaubten, im Einklang mit Gottes Willen zu handeln, während es Jesus tatsächlich tat. Diese Diskrepanz führte zu Konflikten, die sich immer wieder an der gleichen Sache entzündete. Der heutige Bibelabschnitt bietet eine Kostprobe: «Oft kamen Steuereintreiber und andere, die als Sünder galten, um Jesus lehren zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten nahmen Anstoss daran, dass er sich mit so verrufenen Leuten abgab und sogar mit ihnen ass!» (Lukas 15,1f NLB).
Überbordende Liebe
Die Pharisäer bildeten damals die grösste religiöse Partei der Juden. Sie setzten sich für strengste Einhaltung des Gesetzes ein und versuchten, das Judentum reinzuhalten, indem sie fremde Einflüsse abwehrten. Sie stimmten mit den Ansichten der Schriftgelehrten überein und waren mit diesen eng verbunden.
Durch die Berührung mit den Zöllnern und Sündern wurde Jesus nach ihrem theologischen Weltbild unrein. Sie unterschieden zwischen rein und unrein; zwischen frommer und böser Welt. Damit nahmen sie die Reinheitsvorschriften aus der Thora ernst. Dort steht ausführlich, durch welche Handlungen sich die Israeliten unrein machen würden. Beispiele dafür sind das Essen von gewissen Tieren, sexueller Verkehr mit gewissen Personen, das Berühren von Aussätzigen, u.v.a.m. Interessant ist, dass es auch für die Ägypter ein Gräuel war, mit den Israeliten zu essen, weil sie sich dadurch verunreinigten (1Mose 43,32). Die reinen Dinge mussten von den unreinen geschieden werden. Gerade das gemeinsames Essen war im Orient Ausdruck von tiefer Gemeinschaft. Weil sich die Juden der damaligen Zeit nicht verunreinigen wollten, assen sie nicht mit Nicht-Juden oder Sündern wie Huren oder Zöllnern.
Dass Jesus mit Sündern ass, war ein richtiger Affront gegenüber dem religiösen Empfinden des damaligen Establishment. Nach der griechischen Grammatik wird beim Wort Sünder in Vers 1 ein fortgesetzter und ständig wiederholter Vorgang geschildert. Jesus hatte also Tischgemeinschaft mit notorischen Sündern, die sich nicht an die Gebote aus der Thora und der Interpretation der Schriftgelehrten hielten.
Jesus hatte keine Berührungsängste mit unreinen Menschen und Sündern. Der Grund liegt in einer Verheissung aus Jesaja 6, von der Jesus die Erfüllung ist. Jesaja erschrickt angesichts der Heiligkeit Gottes und wir sich seiner Unreinheit bewusst (V.5). Dann berührt ein Engel mit einer glühenden Kohle seinen Mund und sagt: «Sieh, dies hat deine Lippen berührt. Jetzt ist deine Schuld getilgt; deine Sünden sind dir vergeben» (Jesaja 6,7 NLB). Die Kohle ist ein Vorschatten auf Jesus. Durch Ihn ist Unreinheit und Sünde nicht mehr ansteckend, sondern wird getilgt. In aller Deutlichkeit zeigte sich dies, am Umgang von Jesus mit Aussätzigen. Trotz ihrer Unreinheit und Ansteckungsgefahr wurde Jesus nicht unrein, sondern die Aussätzigen geheilt, als Er sie berührte.
Pharisäer und Schriftgelehrte waren gute Leute, die sich zutiefst dem Wort Gottes verpflichtet fühlten. Heutzutage wären diese Leute in bibeltreuen Freikirchen zu finden. Wir sollten also nicht mit den Fingern auf sie zeigen, sondern selbstkritisch aus ihren blinden Flecken lernen. Unsere Aufgabe als Kirche ist es, Jesus auf dieser Erde zu repräsentieren, seinen Geruch zu verbreiten. Leider werden heutzutage Freikirchler eher mit Begriffen wie «selbstgerecht», «verurteilend», «abgrenzend», «besserwisserisch» in Verbindung gebracht, was verdächtig nach Pharisäern und Schriftgelehrten riecht.
In den Lagern der Jugendbewegung JMS, die ich vor 20 Jahren leitete, hatten wir immer wieder Jugendliche dabei, die regelmässig Cannabis rauchten. Als Leitungsteam mussten wir Entscheidungen treffen. Verlangen wir Abstinenz oder wollen wir diese Leute in unserer Gemeinschaft haben? Wir wollten. Deshalb planten wir jeden Tag eine Zeit ein, während der die betroffenen jungen Leute abseits, geordnet und begleitet rauchen durften. Einige Male bekam ich von anderen Jugendleitern zu hören, dass sie Cannabiskonsum niemals dulden würden. Darauf antwortete ich jeweils: «Es ist ein Qualitätsmerkmal von JMS, dass solche Leute dabei sind.» Doch damit wollten wir unsere Armen und Herzen für diese «Sünder» öffnen, damit sie Jesus kennenlernen durften. Bei einigen ist dies geschehen und sie wurden aus ihrer Sucht befreit. Jesus kommt mit jedem Menschen ans Ziel. Mit dieser Hoffnung versehen, wünsche ich, dass wir als seetal chile ein richtiger Anziehungsort für Sünder werden.
Die Linie zwischen Rein und Unrein, Sünder und Gerechten, verläuft nicht zwischen der sichtbaren Kirche und der Gesellschaft. Jesus hat gesagt, dass wir das Unkraut und den Weizen miteinander wachsen lassen sollen (Matthäus 13,24-30). Erst am Tag der Ernte soll die Trennung stattfinden. Es ist der Tag, wenn Jesus wiederkommt und seine reine und makellose Braut, die durch Ihn geheiligt wurde, heiratet.
Jesus hatte maximale Liebe zu den Menschen und maximale Liebe zum Wort Gottes. Er war das Wort von Gott und Seine Liebe sprengte das Denkvermögen aller gutgemeinten Theologie.
Suchende Liebe
«Deshalb erzählte Jesus ihnen folgendes Gleichnis: ‘Wenn jemand hundert Schafe hätte, und eines würde weglaufen und sich in der Wüste verirren, würde er dann nicht die neunundneunzig Schafe zurücklassen, um das verlorene zu suchen, bis er es wiedergefunden hätte?’» (Lukas 15,3f NLB).
Das Gleichnis, das Jesus hier erzählt, ist eindeutig an die Pharisäer und Schriftgelehrten gerichtet («deshalb erzählte Jesus ihnen folgendes Gleichnis», V.3). Bei dieser Geschichte gibt es eine verblüffende Nähe zu einem prophetischen Text aus dem Alten Testament. Dort sagt Gott: «Wie sich ein Hirte um seine Schafe kümmert, wenn sie sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und sie aus allen Orten befreien, wohin sie an jenem finsteren, bedrohlichen Tag zerstreut wurden» (Hesekiel 34,12 NLB). Jesus macht nichts anderes, als dieses Bibelzitat in ein lebendiges Gleichnis zu übersetzen.
Damit sagt Jesus von sich selbst, dass Er der Gott ist, der jetzt die «verlorenen Schafe», die Zöllner und Sünder, sucht und retten will. «Und dann würde er es voller Freude auf seinen Schultern nach Hause tragen» (Lukas 15,5 NLB). Das wiedergefundene Tier ist entweder verletzt oder zu schwach, um selbständig zu gehen. So muss es getragen werden. Jesus setzt hier voller Freude um, was über Gottes Handeln in Hesekiel 34,16 beschrieben wurde: «Ich werde das Verlorene suchen und das Verirrte nach Hause bringen. Ich werde das Verletzte verbinden und das Kranke stärken […]» (NLB). Der Hirte klagt nicht, ärgert sich nicht, beschimpft das Tier nicht. Er ist «voller Freude», dass er es gefunden hat.
Jesus hat nicht nur eine offene Tür für die verlorenen Schafe, sondern nimmt selbst den Weg unter die Füsse, um sie zu finden. Diese Bewegung hin zu den Verlorenen gipfelt darin, dass Jesus als Mensch auf die Erde kam. Ironie der Geschichte ist, dass Jesus gerade wegen diesem Suchen von Zöllner, Huren und anderen Sündern zum Tod am Kreuz verurteilt wurde. Dort schuf Er die Voraussetzung, dass Sünder gerettet werden können. Die Offenheit für soziale Randgruppen brachten Jesus die grössten Schwierigkeiten in seiner irdischen Laufbahn. Seine suchende Liebe war aus Sicht der religiösen Elite inakzeptabel.
Freudiges Finden
«Wieder daheim, würde er alle Freunde und Nachbarn zusammenrufen, damit sie sich mit ihm darüber freuen, dass er sein verlorenes Schaf wiedergefunden hat. Genauso ist im Himmel die Freude über einen verlorenen Sünder, der zu Gott zurückkehrt, grösser als über neunundneunzig andere, die gerecht sind und gar nicht erst vom Weg abirrten!» (Lukas 15,6-7 NLB).
Das Finden eines verirrten Schafes ist Quelle für Freude pur! Dreimal kommt das Wort Freude bzw. sich freuen in diesem kurzen Gleichnis vor. Die Freude ist beim Hirten sowie bei seinen Freunden und Nachbarn genauso wie im Himmel bei den Engeln. Die Umkehr eines einzigen Sünders hat also eine gewaltige Auswirkung in der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Deshalb lohnt es sich, sich weit hinauszulehnen und die Hand auszustrecken. Die einzigen, die sich von dieser Freude abschnitten, waren die Pharisäer und Schriftgelehrten.
Es ist sehr aufschlussreich zu beobachten, wie der Handelnde in diesem Gleichnis wechselt. Zuerst ist es der gute Hirte, der sich auf die Suche nach dem verlorenen Schaf macht. Bei der Schlussfolgerung wird der verlorene Sünder zum Handelnden: Er kehrt zu Gott zurück. Das verlorene Schaf wird nicht gegen seinen Willen gefunden und zur Herde zurückgebracht. Die Umkehr zu Gott liegt in seiner Verantwortung.
Voraussetzung, dass ein Zöllner, eine Hure oder ein anderer Sünder zu Gott zurückkehren konnte, war das Erleben von der riskanten, unlimitierten Liebe Jesu. Genau das sollen verirrte Menschen von der Kirche erfahren. Viele denken, dass jeder Vertreter dieser verrufenen Sozialgruppe, der Jesus begegnet ist, sofort sein Leben geändert hat. Dieses Gleichnis assoziiert vielmehr, dass Einzelne umkehrten und andere traurig weggingen. Nicht jeder dieser verrufenen Menschen, mit denen Jesus ass, waren nachher Jesusnachfolger.
Ich wünschte mir, wir wären eine Kirche, durch die ganz viele «verlorene Schafe» Gottes unlimitierte Liebe erfahren können. Dabei müssen wir die Spannung aushalten, dass einige Menschen das Angebot von Jesus zur Umkehr annehmen und andere traurig weggehen. Angst haben davor, dass unsere Kirche durch Sünder verunreinigt wird, müssen wir nicht. Jesu Reinheit ist stärker als die grösste Unreinheit eines Menschen.
Wer sind die «neunundneunzig anderen, die gerecht sind und gar nicht erst vom Weg abirrten»? In der Logik des Gleichnisses sind es die Pharisäer und Schriftgelehrten. Würden doch die Kritiker von Jesu überbordender Liebe aus ihrer Verblendung aufwachen! Dann wüssten sie, dass auch sie krank, blind und sündig sind und einen Erlöser brauchen – nicht weniger als die Zöllner und Sünder (Johannes 9,40f). Jesus sagt: «Die Gesunden brauchen keinen Arzt – wohl aber die Kranken. Ich bin gekommen, um Sünder zu rufen, nicht Menschen, die sich schon für gut genug halten» (Markus 2,17 NLB).
Viele von uns sind aufgrund ihrer Sozialisierung und Geschichte den 99 Schafen näher als dem einen verlorenen Schaf. Der Geist Gottes öffne unsere Augen des Herzens, dass wir unsere Verlorenheit ohne Jesus erkennen, und uns von Herzen über seine Liebe freuen. Und – machen wir unsere Herzen und Türen weit für die verlorenen Schafe unserer Zeit. Ein bekanntes Zitat lautet: «Du bist verlorener, als du denkst; du bist geliebter, als du ahnst; du bist durch Jesus geretteter, als du dir vorstellen kannst.»
Mögliche Fragen für die Kleingruppen
Bibeltext lesen: Lukas 15,1-7
- Warum störten sich die Pharisäer und Schriftgelehrten so sehr daran, dass Jesus sich mit Zöllnern und anderen Sündern abgab? Versucht die gute Absicht dieser Leute, die sich Gottes Willen verschrieben hatten, zu verstehen.
- Welche Leute könnten im heutigen Kontext aus der Sicht von bibeltreuen Christen «Zöllner und andere Sünder» sein?
- Wie sollen wir uns als Kirche gegenüber solchen Menschen verhalten? Inwiefern gilt es sich abzugrenzen? Was denkst du über das Beispiel aus der JMS-Bewegung?
- Wo verläuft die Linie zwischen rein und unrein sündig und heilig?
- Was ist die Voraussetzung, dass ein Sünder umkehren kann? Wann hast du letztes Mal die Freude erlebt, dass sich ein Mensch Gott zugewendet hat?