Freund und Nächster sein
Ein Gelähmter erfährt durch Jesus Heilung und Vergebung seiner Sünden. Er kommt zu dieser Erfahrung, weil er Freunde und Nächste hat, die ihm dazu verhelfen. Sie haben ein Herz für ihn. Sie tragen ihn zu Jesus und geben trotz Hindernissen nicht auf. Sie glauben fest daran, dass Jesus helfen wird und werden so für den Gelähmten zum Segen.
Wir wollen heute Morgen miteinander über eine Geschichte nachdenken, die Sie wahrscheinlich alle sehr gut kennen. Es ist die Geschichte von der ‚Heilung des Gelähmten in Kapernaum‘. Sie steht u.a. im Markusevangelium, Kapitel 2. Ich lese uns dort die Verse 1-12. Ich will die wichtigste Szene in dieser bekannten Geschichte ganz an den Anfang meiner Predigt stellen. Ja, was ist sie denn, die wichtigste Szene in dieser Geschichte?
- Ist es der Moment, wo die Männer ihren gelähmten Freund durch das Dach herunterlassen – direkt vor die Füsse Jesu? Das ist ohne Zweifel ein besonderer Augenblick. So etwas hat es vorher wohl kaum einmal gegeben. Aber das ist nicht die entscheidende Szene in der Geschichte. Es gibt eine, die wichtiger ist!
- Ist es vielleicht der Moment, wo der Gelähmte auf das Wort Jesu – wahrscheinlich zum allerersten Mal in seinem Leben – aufsteht, seine Matte zusammenrollt, sie unter den Arm nimmt und vor der staunenden Menge, die da versammelt ist, hinausgeht? Interessant übrigens: Als Kranker gab es für diesen Mann keinen Weg durch diese Menge – ich werde darauf noch zurückkommen – als Geheilter wird ihm offenbar Platz gemacht: «Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus», so heisst es im letzten Vers unseres Textes.
Es ist keine Frage: Die Heilung, die hier geschieht, ist einzigartig. Sie ist aussergewöhnlich. Die Leute, die das miterleben, sagen es ja auch so: «Wir haben so etwas noch nie gesehen.»(Markus 2,12). Aber ist das die wichtigste Szene in der Geschichte? Nein! Es gibt etwas, das noch wichtiger, viel wichtiger ist:
- Es ist der Moment, wo der Herr Jesus sich diesem Gelähmten zuwendet und zu ihm sagt: «Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.» Etwas Grösseres und Wichtigeres als dieser Zuspruch an einen Menschen kann eigentlich gar nicht geschehen.
Die Sünde ist es doch, die unser Leben kaputt macht, die unser Miteinander empfindlich stört und uns von Gott und von seiner ewigen Welt trennt. Klar: Das ist nicht jedem Menschen bewusst. Wahrscheinlich realisierte das der Gelähmte in unserer Geschichte auch gar nicht. Es ist sehr wohl möglich, dass der Mann unter seiner Sünde gar nicht litt. Vielleicht hatte er auch gar kein Sündenbewusstsein, so, wie es viele von unseren Zeitgenossen auch nicht mehr haben. Sünde ist heute ja auch gar kein Thema mehr, oder? Wer Sünde noch ernst nimmt, wird doch belächelt, oder dann bemitleidet, nicht für voll genommen. Sünde wird heute ignoriert, geleugnet, oder dann verharmlost, entschuldigt, erklärt, umgedeutet, schöngeredet etc. Doch egal, wie wir mit Sünde umgehen, ihre brutale Wirkung bleibt: Sie macht unser Leben kaputt. Sie belastet unsere Beziehungen und trennt uns für immer von Gott und seiner ewigen Welt, dem Himmel. Darum ist der Zuspruch der Sündenvergebung das Allerbeste, das uns passieren kann. Er stösst die Tür zum Heilwerden unseres Lebens und unserer Beziehungen auf. Er öffnet uns die Tür zum Himmel, die dem verschlossen bleibt, der die Vergebung der Sünden nicht hat. Sündenvergebung ist das höchste Gut, das wir empfangen können. Es ist ein Reichtum, der die Millionen oder auch Milliarden, die die Reichsten dieser Welt besitzen mögen, völlig verblassen lässt. Jesus sagt: «Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?»(Matthäus 16,26). Wir können alle Güter dieser Welt besitzen. Wenn wir keine Vergebung der Sünden haben, werden wir buchstäblich mit leeren Händen dastehen, wenn der höchste Richter, der heilige Gott, uns vor seinen Thron zitiert und uns über unserem Leben zur Rechenschaft zieht. Da reichen dann alle Güter dieser Welt nicht aus, um uns frei zu kaufen von dem Urteil, das uns treffen wird, wenn wir mit unvergebener Schuld vor Gott treten müssen. Haben Sie Vergebung Ihrer Sünden, oder haben Sie sie nicht? Das ist die alles entscheidende Frage: Haben Sie Vergebung Ihrer Sünden, oder haben Sie sie nicht?
Es ist so wichtig, dass wir diesen Zuspruch Jesu haben – jetzt schon und eben auch dann, wenn wir vor dem Richterthron Gottes stehen werden: «Deine Sünden sind dir vergeben!» Der Gelähmte in unserer Geschichte bekommt es von Jesus zugesagt: «Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.» Wunderbar. Wahrscheinlich begreift er es im Moment noch gar nicht, was das heisst. Er ist ja zu Jesus gebracht worden, um von seiner Lähmung befreit zu werden. Doch die Vergebung der Sünden ist das Allerbeste, was ihm passieren konnte. Die körperliche Heilung, die er anschliessend erfährt, ist ‚nur‘ die Bestätigung, der handfeste Beweis dafür, dass der Zuspruch Jesu nicht bloss Schall und Rauch, sondern Wahrheit und Wirklichkeit ist. Eine grossartige Geschichte. Da erfährt einer Vergebung seiner Sünden. Jetzt wollen wir miteinander danach fragen, wie der Gelähmte zu dieser einzigartigen Erfahrung mit Jesus kommt. Wie kommt er zu dieser Begegnung mit Jesus, bei der ihm dieses höchste Gut, Vergebung der Sünden zuteil wird? Die Antwort ist klar: Er hat Menschen, Freunde, Nächste, die ihm zu dieser Begegnung mit Jesus verhelfen. Das möchten Sie doch auch – persönlich und als Gemeinde: Anderen Menschen zu dieser heilbringenden Begegnung mit Jesus verhelfen. Das ist schliesslich unser Auftrag, unsere Berufung. Der Gelähmte in der Geschichte von Markus 2 hat Menschen, die ihm Freunde, bzw. Nächste sind, und die ihm zu dieser entscheidenden Begegnung mit Jesus verhelfen. Was sind das für Menschen? Was kennzeichnet sie? Das ist die Frage, der wir miteinander nachgehen wollen. Es sind fünf ‚Eigenschaften‘, die ich an diesen Freunden des Gelähmten beobachte und die ich an der Stelle kurz entfalten möchte:
- Es sind Menschen, die ein Auge und ein Herz für Schwache haben
- Es sind Menschen, die tragen
- Es sind Menschen, die zu Jesus führen
- Es sind Menschen, die nicht aufgeben
- Es sind Menschen, die glauben.
Das sind die fünf Punkte, die die Freunde oder eben die Nächsten in dieser Geschichte kennzeichnen:
- Sie haben ein Auge und ein Herz für den Schwachen.
- Sie sind bereit zu tragen.
- Sie haben die feste Überzeugung, dass der Gelähmte zu Jesus kommen muss.
- Sie geben nicht auf.
- Sie glauben, dass Jesus hilft.
Bevor ich im Einzelnen auf diese Eigenschaften eingehe, will ich noch kurz auf eine Aussage am Anfang dieser Geschichte hinweisen, über die ich beim Lesen des Textes gestolpert bin. Da heisst es: «Und nach einigen Tagen ging er – Jesus – wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war» Kapernaum galt als ‚seine Stadt‘, als die Stadt Jesu. Da hatte er sein Zuhause. Da wohnte er – wahrscheinlich im Haus des Petrus. «Es wurde bekannt, dass er im Hause war.» «Es sprach sich schnell herum, dass er wieder zu Hause war», übersetzt ‚Hoffnung für alle‘ diese Stelle. Und dieses Dorfgespräch ‚Jesus ist im Haus‘ führte dazu, dass sich die Leute da versammelten. Darum kamen sie in Scharen: Jesus war im Haus! Nicht das prunkvolle Gebäude war es, das die Leute anzog, nicht die tolle Umgebung, nicht der wunderschön gestaltete Versammlungsraum mit Polstersesseln, Bühne und Lichtorgeln, nicht der imposante Kirchturm, auch nicht das einladende Glockengeläut… Es war einzig und allein die Gegenwart Jesu, die die Menschen herbrachte. «Es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele…» Ach könnte das doch auch über den Häusern, über den Kirchen und Kapellen, in denen wir Christen uns versammeln, gesagt werden: «Hey, Jesus ist im Haus! Jesus ist im Haus!» Da würden die Menschen vielleicht auch eher kommen. Da wären sie vielleicht auch weniger gehemmt, unsere Kirchen und Kapellen zu betreten, wenn sie wüssten: Jesus ist im Haus! Als Glaubende sind wir doch der Leib Christi, oder? So lehrt es der Apostel Paulus. Seit Himmelfahrt und Pfingsten sind wir sind seine Repräsentanten in dieser Welt. An uns, an unserem Leben, an unserem Miteinander sollen die Menschen doch Jesus sehen.Leider sehen sie oft so manch anderes, als ihn. Liebe Schwestern und Brüder hier in der seetal chile: Wie spricht man denn in der Gegend hier über das Haus am Chrischonaweg 2 in Seon? Es wäre doch toll, wenn dieses Haus zur Adresse würde, von der man sagt: Da ist Jesus zuhause! Jetzt aber zu den Eigenschaften, bzw. Qualitäten, die das Freund- oder Nächster sein in dieser Geschichte ausmachen:
1. Freund und Nächster sein heisst ein Auge und ein Herz für das Schwache haben
Von den Leuten, die den Gelähmten in unserer Geschichte zu Jesus bringen, wissen wir nicht wirklich, wer sie sind: Sind es Familienangehörige? Sind es Nachbarn? Sind es vielleicht Mitglieder des Samariter- oder Invalidenvereins? Sind es einfach Leute aus seinem Bekanntenkreis? Wir wissen es nicht. Doch eins wissen wir: Sie haben ein Auge und ein Herz für diesen Gelähmten. Er ist ihnen nicht gleichgültig. Sie leiden mit ihm. Sein Gelähmtsein geht ihnen ans Herz. Und sie wollen nichts lieber, als dass ihm geholfen wird. Schwache und Geringe haben in unserer Gesellschaft keinen hohen Stellenwert. Das war schon damals so. Ich erinnere an die bekannte Geschichte vom blinden Bartimäus, die das in dramatischer Weise anschaulich macht: Wie lieb- und herzlos reagieren die Menschen dort doch, als der Blinde nach Jesus ruft und ihn um Erbarmen bittet: «Viele fuhren ihn an, er soll stillschweigen…»(Markus 10,48) «Halt den Mund! riefen ärgerlich die Leute.» So beschreibt ‚Hoffnung für alle‘ die Reaktion der Menschen dort. «Halt den Mund!» Störe uns nicht! Halte den Herrn Jesus nicht auf! Er hat Wichtigeres zu tun, als sich um so erbärmliche Kreaturen wie Dich zu kümmern.
Ganz ähnlich reagieren doch selbst die engsten Jünger Jesu, als Kinder in der Erwartung zu Jesus gebracht werden, dass er seine Hände auf sie legen und für sie beten solle: «Die Jünger fuhren sie – die Eltern – an», lesen wir da von ihnen (Matthäus 19,13; Markus 10,13 etc.). Kinder, oder auch alte, schwache, kranke, behinderte Menschen sind doch nichts für Jesus. Der Messias braucht junge, gesunde, starke Kräfte, um sein wunderbares Reich zu bauen. Das war die Überzeugung der Jünger. Doch Jesus weist sie zurecht: Ihr liegt total daneben! Nein, ich baue mein Reich nicht mit den Grossen, nicht mit den Einflussreichen und Starken, Ich baue mein Reich mit Menschen, die von meiner Kraft und von meiner Gnade leben. Auch Paulus meinte doch, stark sein zu müssen, um Jesus wirkungsvoll dienen zu können. Darum wollte er seine Schwachheit loswerden und betete leidenschaftlich darum. Und Jesus sagt ihm: «Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.» (2.Korinther 12,9). «Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes.» So lehrt Jesus seine Leute. Und wie geht die Geschichte vom blinden Bartimäus weiter, den die Begleiter Jesu zum Schweigen bringen wollen? Jesus bleibt stehen und ruft ihn zu sich (Markus 10,49). Er kümmert sich um ihn und hilft ihm. Und er macht damit deutlich: Für solche Leute bin ich da. «Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken…»(Lukas 5,31). Liebe Schwestern und Brüder, haben wir das denn verstanden und auch verinnerlicht? Jesus hat ein Auge und Herz für das Schwache. Haben wir’s, die wir ihm nachfolgen wollen, auch? Haben wir die schwachen, hilf- und kraftlosen Menschen um uns herum im Blickfeld? Haben wir ein Herz für sie? Oder suchen wir vielleicht auch eher die Gesunden und Grossen und Starken und Reichen? Freund und Nächster sein heisst: Ein Auge und ein Herz für das Schwache haben.
2. Freund und Nächster sein heisst tragen
Das beeindruckt mich an den Leuten, die den Gelähmten zu Jesus bringen. Sie packen an. Sie sehen nicht nur zu. Sie haben nicht bloss Mitleid mit ihm. Sie bekunden ihm nicht nur ihre Anteilnahme und ihr Mitgefühl. Sie versuchen nicht, ihn zu trösten. Sie geben ihm auch nicht gute Ratschläge. Sie sagen ihm nicht: Du musst halt… Du solltest eben… Nein! Sie packen an. Sie nehmen ihn auf ihre Schultern und tragen ihn. Und sie tragen ihn so lange, bis er bei Jesus ist. Das macht das Freund sein aus: Den Schwachen tragen. Sich unter seine Last stemmen. Seine Not zur eigenen Not machen – so lange, bis sie abgewendet ist. So lehrt es doch auch Paulus in seinem Brief an die Galater, wenn er ihnen schreibt: «Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.»(Galater 6,2). Freund und Nächster sein heisst tragen. Und das geht nicht allein. Dazu braucht es eine Trägergemeinschaft. Ein Einzelner wäre überfordert. In unserer Geschichte wird gesagt, dass der Gelähmte von vieren getragen wird. Verstehen Sie? Es ist nicht einer. Es sind auch nicht bloss zwei. Es sind vier, die den Gelähmten tragen. Und der Textlaut lässt darauf schliessen, dass noch andere dabei waren: «Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.» Da sind offensichtlich noch mehr dabei, die den Gelähmten bringen, als nur die vier, die ihn gerade tragen. Da ist eine Trägergemeinschaft, Leute, die einander im Tragen auch abwechseln können. Freund sein heisst tragen. Und dieses Tragen geschieht nicht allein, sondern zusammen mit anderen. Ein Einzelner wäre überfordert und würde unter der Last, die er trägt, früher oder später selber zusammenbrechen. Liebe Schwestern und Brüder hier in Seon, Sie haben nicht nur den Auftrag, sondern miteinander auch die Kraft, das Potential, um gemeinsam Menschen zu tragen, die schwach sind. Tun Sie es!
3. Freund und Nächster sein heisst Menschen zu Jesus bringen
Das scheint mir hier ein entscheidender Punkt zu sein. Die Leute tragen den Gelähmten nicht irgendwohin. Sie tragen ihn nicht in ihre Clubhütte. Sie tragen ihn nicht zu einer Vereinsversammlung, nicht zu einem Nachbarschafts- oder Familientreffen. Sie schleppen ihn auch nicht zu einem spannenden Vortrag, nicht an ein Konzert, oder an eine Unterhaltungsveranstaltung. Das alles machen Freunde ja auch, klar. Und manchmal ist es ja auch gut und wichtig, schwache Menschen dahin mitzunehmen, wo sie von ihrem Elend etwas abgelenkt werden. Doch die Menschen hier in der Geschichte schleppen den Gelähmten nicht irgendwohin. Sie tragen ihn zu Jesus, weil sie zutiefst davon überzeugt sind, dass dieser Mann vor allem anderen Jesus braucht. Dieses Anliegen brennt in ihren Herzen: Dieser Mann muss zu Jesus kommen. Er muss Jesus begegnen. Darum bringen sie ihn nicht irgendwohin sondern zu Jesus. Diese Beobachtung ist mir so wichtig, weil ich es aus eigener Erfahrung als langjähriger Prediger weiss, wie gross die Versuchung für uns als christliche Gemeinden ist, sich für andere Menschen nur deshalb zu interessieren, weil wir doch Zuwachs für die Gemeinde suchen. Wir wollen wachsen. Wir wollen grösser werden. Und dann laden wir ein zu unseren Gemeindeveranstaltungen – nicht weil wir möchten, dass die Leute Jesus kennen lernen, sondern weil wir möchten, dass die Gemeinde wächst. Und wenn sie dann zum Gottesdienst kommen, sind wir schon zufrieden. Und wir fragen gar nicht mehr danach, ob sie Jesus erleben, ob sie Vergebung ihrer Sünden erfahren und neues Leben bekommen, oder nicht. Hauptsache: Sie sind da, in der Gemeinde! Und diese Versuchung ist für kleine Gemeinden, für Gemeinden, die ums Überleben kämpfen müssen, besonders gross. Ich weiss, wovon ich spreche. Die Chrischona-Gemeinde Egg, wo ich die letzten 9 Jahre meines Dienstes als Prediger stationiert war, war eine sehr kleine Gemeinde. Da war dieser Kampf ums Überleben sehr real. Und ich merkte es immer wieder: Da geht’s plötzlich nicht mehr primär darum, Menschen zu Jesus zu bringen, sondern sie für den eigenen ‚Club‘, für die Gemeinde zu gewinnen… Doch wenn das zur Motivation für Evangelisation wird, dann ist sie schon gescheitert. Denn das merken die Menschen sehr schnell. Sie merken sehr schnell, ob es uns um sie selber, oder um uns, um unseren Verein, um neue Mitglieder geht. Und das macht sie zurückhaltend und auch misstrauisch. Dieser Ruf, Menschen für uns selbst, für unsere christlichen Vereine gewinnen zu wollen, klebt uns evangelikalen Gemeinden ja auch ein bisschen an – manchmal nicht ganz zu Unrecht… Freund und Nächster sein heisst Menschen zu Jesus bringen – nicht zur Gemeinde! Freund sein heisst sich herzlich freuen, wenn sie Jesus erleben, wenn sie zum Glauben ihn kommen und durch den Glauben an Jesus Hoffnung und neues Leben erfahren – auch wenn sie sich dann nicht ‚unserer‘ Gemeinde anschliessen. Es ist doch bemerkenswert in unserer Geschichte, dass Jesus dem Gelähmten nicht sagt: «Steh auf, nimm dein Bett und schliesse dich uns an!» Er sagt ihm: «Steh auf, nimm dein Bett und geh heim!» Freund und Nächster sein heisst Menschen zu Jesus bringen.
4. Freund und Nächster sein heisst nicht aufgeben
Die Leute in unserer Geschichte, die es auf dem Herzen haben, den Gelähmten zu Jesus zu bringen, erfahren, dass das nicht so leicht geht. Es gibt auf dem Weg zu Jesus ein grosses Hindernis. Und dieses Hindernis ist eigentlich tragisch: Es sind die Menschen, die sich für Jesus interessieren, die ihm besonders nahe sein möchten. Sie stehen dem ‚Behindertentransport‘ im Wege. Sie lassen die Männer mit dem Gelähmten nicht durch. Sie machen keinen Platz. Wie hindernd, wie blockierend für Bedürftige können fromme Menschen werden, wenn sie den Blick und das Herz für das Schwache verlieren. Dann stehen sie plötzlich im Weg. Sie stehen denen im Weg, die zu Jesus gebracht werden sollten, weil sie ihn dringend brauchen. Das ist das Erschütternde an dieser an sich ja tollen Geschichte: Das grösste Hindernis für die Menschen mit ihrem gelähmten Freund sind die, die Jesus ganz nahe sein wollen… Möge diese Geschichte zum gnädigen Spiegel für uns werden, wenn es bei uns auch so sein sollte, dass wir als fromme Menschen für andere mehr Hindernis als Wegweiser und Helfer zu Jesus sind. Das Gute an dieser Geschichte ist, dass die Männer, die den Gelähmten tragen, nicht aufgeben. Sie könnten ja resignieren und sagen: Sorry, wir haben’s versucht, aber es hat nicht geklappt. Wir wollten es von ganzem Herzen, dass dieser Gelähmte zu Jesus kommt, aber es war leider nicht möglich. Sie hätten aufgeben und den Kranken wieder heimtragen können. Doch das tun sie nicht. Sie geben nicht auf. Sie gehen einen unkonventionellen, ja völlig verrückten Weg, um ihr Ziel zu erreichen: Sie steigen auf’s Dach des Hauses und brechen es auf. Es heisst hier: «Sie machten ein Loch…» (Markus 2,4). Die machen ein Loch ins Dach! Und das war kein Ziegeldach, wie wir’s heute kennen, das man aufdecken und anschliessend einfach wieder zumachen konnte. Das war wahrscheinlich ein Lehmdach, bei dem es nicht so ganz einfach war, es wieder dicht zu kriegen. Diese Männer riskieren eine Anklage wegen Sachbeschädigung. Sie durchlöchern das Dach des Hauses, wo Jesus ist und lassen den Gelähmten durch dieses Loch im Dach hinunter – direkt vor die Füsse Jesu. Liebe Schwestern und Brüder, wie viel sind wir denn bereit zu investieren und auch zu riskieren, wenn es darum geht, dass Menschen Jesus begegnen können? Ich habe den Eindruck, dass wir manchmal viel zu schnell aufgeben, dass wir viel zu schnell kapitulieren, wenn’s Schwierigkeiten gibt. Freund sein heisst nicht aufgeben. Nächster sein heisst dranbleiben – auch wenn auf dem Weg zu Jesus Hindernisse auftreten.
5. Freund und Nächster sein heisst für den andern glauben
Das ist etwas, was mich an dieser bekannten Geschichte immer wieder fasziniert, wenn ich sie lese oder höre. Da wird gesagt: «Als nun Jesus ihren Glauben sah – den Glauben der Freunde – sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.» Wir lesen in der ganzen Geschichte nichts vom Glauben des Gelähmten. Vielleicht glaubte der gar nicht. Vielleicht war er voller Zweifel. Vielleicht liess er’s einfach geschehen, dass seine Freunde ihn zu diesem Jesus schleppten. Vielleicht dachte er: Nützt’s nichts, so schadet‘s nichts! Jesus sieht hier jedenfalls nicht den Glauben des Gelähmten, sondern den seiner Träger. «Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.» Offenbar gibt es so etwas wie einen ‚Fürglauben‘, einen Glauben, den wir stellvertretend für Schwache haben können. Persönlich glaube ich, dass es Situationen und Lebensführungen gibt, bei denen Menschen die Kraft und die Fähigkeit zu glauben nicht mehr aufbringen. Und in solchen Situationen nützen dann eben Appelle wie: Du musst nur glauben! Du darfst eben nicht zweifeln! etc. überhaupt nichts. Im Gegenteil: Sie machen die Not des Schwachen nur noch grösser. Es gibt Situationen und Lebensführungen, wo stellvertretender Glaube gefragt ist, der Fürglaube von Menschen, die stark sind. Und unsere Geschichte zeigt, dass Jesus einen solchen Fürglauben respektiert und den Schwachen, für den geglaubt wird, segnet. Freund und Nächster sein heisst für den andern glauben.
Liebe Schwestern und Brüder hier in der seetal chile: Von Herzen wünsche ich Ihnen allen, dass Sie solche Freunde haben, wie sie hier in dieser Geschichte vom Gelähmten beschrieben werden. Aber noch viel mehr wünsche ich Ihnen, dass Sie alle solche Freunde sind oder werden – zum Segen für Gelähmte, für Kranke, für Schwache und Bedürftige. Ich möchte schliessen mit dem Hinweis auf’s Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Sie wissen ja wohl, warum Jesus dieses Gleichnis erzählt? Er erzählt es, weil einer – ein Schriftgelehrter – zu ihm kommt und fragt: «Wer ist mein Nächster?» (Lukas 10,29). Und dann erzählt Jesus diese Geschichte vom Überfallenen, an dem die frommen Leute, der Priester und der Levit achtlos vorbei gehen. Und dann kommt der Samariter, dieser ‚fremde Fötzel‘,und hilft dem Geschundenen. Er kümmert sich um seine Wunden und versorgt ihn. Erinnern Sie sich auch, wie Jesus diese Gleichnisgeschichte abschliesst? Er tut’s mit der Frage: «Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?» (Lukas 10,36). Der Schriftgelehrte fragt Jesus, wer denn sein Nächster sei. Und Jesus antwortet ihm: Die Frage ist nicht, wer dein Nächster ist. Die Frage ist, wem Du Nächster bist. Freund sein heisst Nächster sein. Und Nächster sein heisst dem dienen, der Hilfe braucht. Nächster sein heisst, den sehen, den tragen, den zu Jesus bringen, für den dranbleiben und für den glauben, der das selbst nicht, oder noch nicht schafft. Der Herr Jesus helfe uns allen, solche Menschen zu werden, eben Freunde und Nächste, die für andere da sind und ihnen zur Begegnung mit ihm verhelfen.