Die Schuld anderer bezahlen
Serie: Folge du mir nach | Bibeltext: Matthäus 18,28-35
Es gibt drei grundlegende Dimensionen der christlichen Vergebung. Erstens gibt es die vertikale Dimension – Gottes Vergebung uns gegenüber. Zweitens gibt es die innere – die Vergebung, die wir jedem gewähren, der uns Unrecht zugefügt hat. Drittens gibt es die horizontale – unsere Bereitschaft zur Versöhnung. Die horizontale Dimension basiert auf der inneren, und die innere basiert auf der vertikalen. In dieser Predigt geht es vor allem um die innere Vergebung.
Ein Pastorenfreund von mir, der letztes Jahr aufgrund eines Krebsleidens mit 67 Jahren verstarb, schreibt in seiner Autobiografie über zwei Erfahrungen an Sterbebetten von Vorbildern der Kirche: «Meine Frau und ich hatten uns entschieden, unser drittes Kind abzutreiben, weil schon zwei Kinder für uns eine grosse Herausforderung waren. Ich habe bei jedem Abendmahl, also während sechzig Jahren, Jesus um Vergebung gebeten. Ich habe mich so viel ich konnte für die Kirche und die Mission eingesetzt, aber ich finde keinen Frieden, diese Geschichte klagt mich täglich an!» Hier geht es um die vertikale Dimension der Vergebung, zwischen Gott und uns. Kann ich glauben und für mich persönlich annehmen, dass in der astronomischen Summe von CHF 4,38 Milliarden (vgl. Predigt vom 06.10.2024) jede einzelne meiner Sünden beinhaltet sind? Reich das Blut Jesu auch für meine tiefsten Abgründe und Versagen?
Im Gleichnis (Matthäus 18,21-35) erliess der König seinem Diener die ganze Schuld. Kurz darauf begegnet der Ex-Schuldner einem Kollegen, der ihm Faktor 600’000 weniger schuldet. Aus unerklärbaren Gründen reagiert er maximal unbarmherzig: «Er liess ihn verhaften und einsperren, so lange, bis dieser seine ganze Schuld bezahlt hätte» (Matthäus 18,30 NLB). Die Schuld, die andere Menschen bei uns haben, ist immer tausendfach geringer als die Schuld, die uns Gott vergeben hat. Dies gilt selbst für Missbrauchssituationen. Die Reaktion des Königs lässt dann nicht lange auf sich warten: «Der König war so zornig, dass er den Mann ins Gefängnis werfen liess, bis er seine Schulden bis auf den letzten Cent bezahlt hatte» (V.34 NLB). Jesus schliesst die Erzählung dieser Parabel mit einem sehr ernsten Satz: «Genauso wird mein Vater im Himmel mit euch verfahren, wenn ihr euch weigert, euren Brüdern und Schwestern zu vergeben» (V.35 NLB). Diese Abhängigkeit zwischen der vertikalen und horizontalen Ebene zieht sich wie ein roter Faden durch das Neue Testament. «Seid stattdessen freundlich und mitfühlend zueinander und vergebt euch gegenseitig, wie auch Gott euch durch Christus vergeben hat» (Epheser 4,32 NLB). Die Erfahrung von Gottes kostspieliger Liebe bei der Vergebung unserer Sünden ist die Motivation und die Kraft, um den Menschen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Die Unfähigkeit, anderen zu vergeben, ist das verräterische Zeichen dafür, dass ich Gottes unverdiente Vergebung und Barmherzigkeit nicht angenommen habe.
Der Tausch der Stellung
Was ist so stossend an der an der Haltung des unbarmherzigen Dieners gegenüber seinem Mitmenschen? Es ist Folgendes: Ein Mann, der ein Diener ist und nur von der Barmherzigkeit des Königs lebt, verhält sich so, als wäre er der König und Richter. «Ins Gefängnis mit dir!», sagt er zu jemandem, der ein Diener ist wie er. Wie unpassend und unangebracht. Wenn wir, die wir nur von Gottes Barmherzigkeit leben, über andere urteilen, versetzen wir uns selbst an Gottes Stelle. Wenn wir das tun, richten wir uns gegenseitig, zahlen es einander heim und verweigern einander die Vergebung. Immer, wenn wir jemandem nicht vergeben wollen, sind wir ein Diener, der sich wie ein König aufführt.
Das Einzige, was einen Diener davon abbringen kann, sich wie ein König zu verhalten, ist ein Blick auf die erstaunliche Liebe des Königs, der ein Diener wurde. Wir sollten auf der Anklagebank sitzen, aber wir haben uns auf den Richterstuhl gesetzt. Der Herr aber, der zu Recht auf dem Richterstuhl des Universums sass, stieg herab, setzte sich auf die Anklagebank und ging ans Kreuz.
Die Ressourcen für Vergebung
Ein gutes Beispiel eines Menschen, der sich nicht als König aufführt, ist Josef, der Lieblingssohn von Jakob. Jakob bevorzugte Josef und machte aus ihm einen verwöhnten, selbstverliebten, jungen Mann. Das erzürnte die anderen Söhne dermassen, dass sie grausam handelten. Sie verkauften Josef in die Sklaverei nach Ägypten. Dort wurde er gedemütigt und verändert und begann, auf Gott als seine Stärke zu vertrauen. Schliesslich wurde er neben dem König zur führenden Regierungsautorität in Ägypten.
Zwanzig Jahre später kommen Josefs Brüder nach Ägypten und stehen vor ihm. Sie wollen Lebensmittel kaufen, um eine schwere Hungersnot zu überleben. Sie erkennen Josef nicht, aber er erkennt sie sehr wohl. Er gibt sich ihnen aber nicht zu erkennen. Die Brüder sind entsetzt und sprachlos, denn sie fürchten, nun ihr gerechtes Urteil zu empfangen.
Wenn wir Schwierigkeiten mit der Vergebung haben, erfahren wir hier, wie es geht.
- Josef hatte genug Demut, um zu vergeben. Seine Aussage: «Habt keine Angst vor mir. Bin ich etwa an Gottes Stelle?» (1Mose 50,19 NLB), belegt das. Er schwingt sich nicht zum König oder Richter auf, sondern identifiziert sich mit den Tätern als Mitsünder. Unversöhnlich zu bleiben, bedeutet, dass man sich nicht darüber im Klaren ist, wie sehr man selbst der Vergebung bedarf.
- Josef hatte genug Gutes erlebt, um zu vergeben. Zweitens sagt Josef: «Was mich betrifft, hat Gott alles Böse, das ihr geplant habt, zum Guten gewendet» (V.20 NLB). Josef beschönigt die Dinge nicht, sondern spricht vom Bösen, das sie im Sinn hatten. Aber Josef hat Gottes Fürsorge und seine kostspielige Liebe Gottes erfahren. Diesen inneren Reichtum kann niemand antasten. Je mehr wir aus der Freude darüber leben, dass uns vergeben wurde, umso schneller werden wir anderen vergeben können.
Beides, die Demut und das erlebte Gute, haben die Grundlage in dem Wissen, dass Gott uns das Heil aus reiner Gnade geschenkt und Er den Preis dafür bezahlt hat.
- Anschliessend folgt der Schritt ins konkrete Tun: «Habt also keine Angst. Ich selbst will für euch und eure Familien sorgen» (V.21 NLB). Josef vergilt Böses mit Gutem. Vergeben bedeutet, jemanden so zu behandeln, wie Gott mich behandelt.
Die Aufforderung zur Vergebung
Die zweite Sterbebettgeschichte ist folgende: «Eine alte Frau erzählt mir, wie sie innerhalb des kirchlichen Umfelds mehrfach als Teenager vergewaltigt wurde und dies niemandem, auch nicht ihrem späteren Mann erzählen konnte. Sie fühlte sich nicht nur schmutzig, sondern, obwohl sie ausgeliefertes Opfer war, auch schuldig.»
Es gibt drei grundlegende Dimensionen der christlichen Vergebung. Erstens gibt es die vertikale Dimension – Gottes Vergebung uns gegenüber. Zweitens gibt es die innere – die Vergebung, die wir jedem gewähren, der uns Unrecht zugefügt hat. Drittens gibt es die horizontale – unsere Bereitschaft zur Versöhnung. In dieser Predigt geht es vor allem um die innere Vergebung. Nächstes Mal behandeln wir den Bereich der Versöhnung und der Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Niemals kann man obigem Beispiel allein durch die innere Vergebung gerecht werden. Gerade in christlichen Gemeinschaften wurden Missbrauchstäter zu oft geschützt, indem Opfer zum Schweigen gebracht oder ihnen gesagt wurde, sie sollen vergeben.
Es mag auf den ersten Moment für ein Missbrauchsopfer zynisch wirken, aber der Weg zur Heilung und Versöhnung beginnt mit der inneren Vergebung. Zwischen Vergeben und Entschuldigen besteht ein Riesenunterschied. Wenn Täter manchmal mit ihrer Tat konfrontiert werden und eine gute Erklärung für ihr Handeln abgeben, akzeptieren wir das vielleicht und entschuldigen sie. Aber das ist keine Vergebung – es ist die Feststellung, dass es gar keine wirkliche Schuld gab. Vergeben ist der Verzicht auf Vergeltung und die Bereitschaft zur Versöhnung. Folgende Schritte gehören dazu:
- das Unrecht wahrheitsgemäss als tatsächlich falsch und strafwürdig zu bezeichnen (und nicht nur einfach zu entschuldigen)
- sich mit dem Täter als Mitsünder zu identifizieren
- den Täter aus der persönlichen Verpflichtung zur Wiedergutmachung zu entlassen, indem man die Schuld selbst übernimmt
- auf Versöhnung und die Wiederherstellung der durch das Unrecht zerrütteten Beziehung hinzuarbeiten. (siehe nächste Predigt)
Jesus ist der Meinung, dass jede Person, die in einen Konflikt involviert ist, automatisch für den Start des Vergebungsprozesses verantwortlich ist:
«Wenn ihr also vor dem Altar im Tempel steht, um zu opfern, und es fällt euch mit einem Mal ein, dass jemand etwas gegen euch hat, dann lasst euer Opfer vor dem Altar liegen, geht zu dem Betreffenden und versöhnt euch mit ihm. Erst dann kommt zurück und bringt Gott euer Opfer dar» (Matthäus 5,23f NLB).
«Und wenn ihr beten wollt und etwas gegen jemand habt, dann vergebt ihm, damit euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen auch vergibt» (Markus 11,25 NGÜ).
In diesem zweiten Text fordert Gott uns auf zu vergeben, unabhängig davon, ob der Schuldige bereut und um Vergebung gebeten hat oder nicht: Vergebt ihm (aphiete) steht in der Gegenwartsform des Imperativs, um die grösstmögliche Betonung zu erzielen. Wenn gegen uns gesündigt wurde, verlieren wir etwas – sei es Glück, Ansehen, inneren Frieden, eine Beziehung, eine Chance oder etwas anderes. In allen Situationen, in denen Unrecht geschieht, gibt es immer eine Schuld, und es gibt keine Möglichkeit damit umzugehen, ohne zu leiden – entweder lässt man den Täter dafür leiden oder man vergibt und leidet selbst dafür. Entweder lässt man den Schuldner bezahlen, indem man ihn so lange verletzt, bis man das Gefühl hat, dass die Dinge ausgeglichen sind, oder man bezahlt, indem man vergibt und den Schmerz selbst trägt. Vergebung ist emotional immer teuer. Sie kostet viel Blut, Schweiss und Tränen.
Wenn wir vergeben, zahlen wir auf verschiedene Weisen selbst die Schuld:
- Indem wir uns entscheiden, den Verursacher des Unrechts nicht direkt zu schädigen.
- Indem wir es ablehnen, schlecht über den Menschen, der uns verletzt hat, zu sprechen.
- Indem wir uns den negativen Gedanken über den Menschen, der uns gekränkt oder geschädigt hat, versagen.
Vergebung wird also gewährt, bevor sie empfunden wird oder eine Einsicht bei den Tätern vorhanden ist. Sie ist ein Versprechen, sich die drei erwähnten Dinge entschieden zu versagen, für den Schadensverursacher zu beten und sich zugleich bewusst zu machen, dass man selbst ausschliesslich aus der Gnade Gottes lebt.
Die amerikanische Schauspielerin Carrie Fisher spricht aus, was passiert, wenn man nicht vergibt: «Groll ist, als würde man Gift trinken und dann darauf warten, dass die andere Person stirbt.» Eigentlich kann sich das niemand leisten.
Indem wir den Preis der Sünde selbst zahlen, folgen wir Jesus auf seinem Weg. Einer seiner letzten Worte am Kreuz lauteten: «Vater, vergib diesen Menschen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lukas 23,34 NLB). Jesus hat vergeben, ohne dass bei diesen Verbrechern eine Einsicht ihrer Schuld vorhanden war. Am Kreuz hat Gottes Liebe seiner eigenen Gerechtigkeit Genüge getan, indem er gelitten und die Strafe für die Sünde getragen hat. Vergebung gibt es niemals ohne Leiden, Nägel, Schweiss, Blut.
Mögliche Fragen für die Kleingruppen
Bibeltext lesen: Matthäus 28,21-35
- Welche Herzenshaltung hatte Josef, dass er seinen Brüdern vergeben konnte? Wie wurde die Beziehung wiederhergestellt?
- Immer, wenn wir jemandem nicht vergeben wollen, sind wir ein Diener, der sich wie ein König aufführt. Was löst diese Aussage bei dir aus?
- Was ist der Unterschied zwischen Entschuldigen und Vergeben?
- Wie bezahlt man für die Schulden anderer? Was ist dabei wichtig?
- Gibt es in deinem Herzen Groll gegen Leute, denen du noch nicht vergeben hast?