Datum: 13. Juni 2021 | Prediger/in:
Serie: | Bibeltext: Matthäus 6,1-18.

Man kann das Vaterunser mit einer Bergregion vergleichen: Es ist weitläufig und voller wunderschöner Orte. Wir unternehmen eine Zugfahrt mitten durchs Vaterunser, um das Geb(i)et besser kennenzulernen und darüber zu staunen.


Vor zwei Wochen trafen wir uns, um gemeinsam ins Lifegroup Weekend zu starten. Wir hatten jede Menge Spass! – Beispielsweise beim «Schiitli um» oder im Kanu. Und wir beschäftigten uns mit dem Vaterunser, dem wohl bekanntesten Gebet des Christentums. Es freute mich sehr zu sehen, welche Freude ihr dabei an den Tag gelegt habt und freue mich deshalb noch ein bisschen mehr, diese Reise heute weiterzuführen.

Zugfahrt durchs Vaterunser

Am Lifegroupweekend haben wir bei einzelnen Sätzen genau hingeschaut, uns einige Gedanken dazu gemacht und versucht, Gott darin wahrzunehmen. Heute wollen wir uns dem Vaterunser etwas anders nähern. Die heutige Predigt ähnelt einer Zugfahrt. Das Vaterunser kann man mit einer Gebirgsregion vergleichen: Es ist – trotz der kurzen und wenigen Sätzen – sehr weitläufig, vielschichtig und voller Überraschungen. Bildlich gesprochen finden wir an vielen Orten Bergseen, Bäche und Wasserfälle; verschiedene Bäume und Blumen; Murmeltiere, Steinböcke und Dohlen. Wir können nicht alles an einem Morgen unter die Lupe nehmen! Aber wir werden in kurzer Zeit durch die Region fahren und sie dadurch besser kennenlernen. Mein Wunsch für heute morgen ist, dass wir uns alle im Vaterunser etwas besser orientieren können und wir es kaum erwarten können, bei einem der Bergseen zu verweilen. Und dann beim nächsten.

Die Umgebung des Vaterunsers

Bevor wir durch das Vaterunser fahren, wollen wir herauszoomen und die Umgebung aus der Vogelperspektive betrachten. Das Vaterunser, wie wir es kennen, steht im Matthäusevangelium. Es steht somit im zweiten grossen Block der Bibel: dem Neuen Testament. Das Matthäusevangelium berichtet uns vom Leben Jesu. Das Vaterunser steht in der sogenannten Bergpredigt in der Jesus vom Leben als Kind Gottes spricht. Es reiht sich besonders gut in unser Jahresthema «Metamorphose» ein und das gleich aus zwei Gründen: Erstens, weil wir den grössten Teil des Jahres in der Bergpredigt aufhalten und zweitens, weil Beten in unserer Verwandlung zur Christusähnlichkeit eine äusserst zentrale Rolle spielt. Das Vaterunser kommt in der Bergpredigt in dem Abschnitt vor, in dem Jesus über echtes und falsches Leben nach Gottes Herzen redet. Dabei spricht er drei Grundpfeiler des antiken Judentums an: Almosen geben, beten und fasten. Im Teil über das Gebet beschreibt er, wie Leute lange Gebete formulieren, in der Hoffnung, dass sie dadurch erhört werden. Das Vaterunser ist der Gegensatz zu diesen Dampfgebeten, die eigentlich nicht damit rechnen, dass Gott eingreifen kann. Das Gebet, das Jesus seinen Jüngern mitgibt – und somit auch uns schenkt – ruht hingegen auf der Aussage: «Euer Vater weiss, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.» (Matthäus 6,8 LUT). Jesus sagt seinen Jüngern, wie sie beten sollen. Und diese reichhaltigen Worte wollen wir jetzt gemeinsam anschauen. Wir teilen das Gebet gemeinsam mit Gerhard Maier in vier Abschnitte: (1) Anrede, (2) Du-Bitten, (3) Wir-Bitten und (4) Lobpreis.

1 – Anrede

Jesus startet mit der Anrede «Unser Vater im Himmel!» (Matthäus 6,9 LUT) und sagt somit gleich, an wen das Gebet der Jünger gerichtet ist: An Gott im Himmel, den Vater der Jünger. Wer Jesus nachfolgt, ist nicht «nur» ein Mitarbeiter, Mitspieler oder Vertragspartner, sondern ein Kind Gottes. Und alle diese Kinder Gottes gehören – wie es «Vater» bereits sagt – zur selben Familie. Zur Familie Gottes. Schlatter bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass die Kombination von «unser Vater» und «im Himmel», uns vor Übermut bewahrt, weil wir wissen, dass Gott zwar nah und doch auch fern und ganz anders ist. Gerade deshalb, weil er «im Himmel» ist, bedeuten die ersten beiden Wörter so viel.

2 – Du-Bitten

Mit den ersten drei Bitten, den Du-Bitten, richtet Jesus den Blick zuerst weg von den Jüngern und in unserem Fall von uns. Das tut sehr gut! Wie häufig drehen wir uns im Kreis, weil es uns nur um uns selbst geht! So oft verletzen wir unsere Liebsten, weil wir einfach nicht über den Spiegel hinwegschauen können und stets unsere Vorteile suchen. Jesus beginnt anders: Er richtet unseren Blick auf diesen wundervollen Vater, den wir ehren dürfen.  Ihn, anstatt uns, anbeten zu können ist Erlösung in Aktion. Jesus betet vor (Matthäus 6,9b-10 LUT):

«Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.»

Die erste Bitte erinnert an Psalm 115,1: «Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre um deiner Gnade und Treue willen!» Nicht uns, sondern Gott soll die Ehre zukommen. Das ist das, was der Begriff «Name» meint – darin enthalten ist die betreffende Person. Die zweite Bitte ist voller Hoffnung, – und ist gleichzeitig eine gewagte Frechheit der Christen gegenüber den Mächten des Bösen. Sie erinnert mich an den Roman «Jakob der Lügner», der in einem Ghetto spielt. In ihm wird erzählt, wie die Hoffnung, dass die Rote Armee bald bis zu ihnen vordringt und sie befreit, das Leben der Juden völlig veränderte und neue Kraft spendete. Auch wenn dies kein perfekter Vergleich ist, zeigt uns diese Geschichte etwas von der Dynamik der zweiten Bitte. Wir bitten darum, dass ein anderes Reich kommt als das jetzige. In diesem Reich gibt weder Leiden, noch Hass, noch Verbitterung. Nachfolger von Jesus glauben, dass dieses Reich kommt und dass sie vom Herrn – Jesus – aufgenommen werden. Trotz klarem Blick in die Zukunft ist das Vaterunser im Heute geerdet, wie wir bald sehen werden. Durch die dritte Bitte lernen wir, dass Gottes Wille noch nicht überall durchgesetzt wird. Sein Wille ist das Gute und Vollkommene. Wir beten, dass sich sein Wille überall durchsetzt. Gleichzeitig sind wir dazu aufgefordert, uns verwandeln zu lassen, um nach seinem Willen zu leben, wie es unser Jahresvers gut beschreibt: «Und paßt euch nicht diesem Weltlauf an, sondern laßt euch [in eurem Wesen] verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.» (Römer 12,2 SLT). Wir sollen dafür bitten und danach handeln.

3 – Wir-Bitten

Es folgen die vier Wir-Bitten. Sie betreffen unser Leben im Kern und sind spannenderweise im Plural formuliert. Wir können – uns sollen – es also auch miteinander beten. Wir fahren in unserer Zugfahrt daran vorbei (Matthäus 6,11-13):

«Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.»

In der vierten Bitte bitten wir den himmlischen Vater gemeinsam, dass er uns gibt, was wir zum Leben brauchen. Das fängt hier beim Brot an, aber damit ist es nicht abgeschlossen. Die Bitte um das tägliche Brot schliesst auch alles andere, was wir zum Leben benötigen mit ein. Für uns Schweizer fühlt sich dieser Satz häufig etwas leer an. Wir leben in materiellem Überfluss. Aber das haben wir nur so lange, wie Gott es will. Auch wir sind von ihm abhängig. Vielleicht seid ihr im Geschichtsunterricht dem sogenannten «Jahr ohne Sommer» begegnet. Das war 1816. In diesem Jahr brach eine Hungersnot in unseren Gegenden aus, da man aufgrund des schlechten Wetters grosse Missernten hatte. Die gängigste Erklärung für den grossen Wettereinbruch ist der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien ein Jahr zuvor. Die Staub- und Aschepartikel verbreiteten sich in der Atmosphäre und reduzierten die Sonneneinstrahlung massiv. So schnell kann es gehen, auch in Mitteleuropa. Deshalb ist gerade auch für uns diese vierte Bitte wichtig. Sie erinnert uns daran, dass alles aus Gottes Hand kommt. In der fünften Bitte nimmt Jesus Bezug auf unsere Schulden. Er meint damit nicht primär unserer finanziellen Schulden – aber er braucht sie später in einer anderen Rede als Bild, um unsere Schuld vor Gott zu beschreiben. Er macht damit klar: Wenn wir vor Gott schuldig werden, verpufft diese Schuld nicht im Nichts. Sie bleibt wie eine Geldschuld und wächst, wenn neue Schulden hinzukommen. Auch wie eine Geldschuld müssen unsere Vergehen zurückbezahlt werden. Das Problem, das uns ständig begleitet, ist, dass wir von Geburt an unfähig sind, schuldlos zu leben. Die Ichsucht regiert in uns ab Tag eins und türmt hohe Schuldenberge auf. Wir dürfen nicht zu schnell an diesen Worten Jesu vorbeipreschen: Sie sind in der ganzen Weltgeschichte einzigartig! Jesus kann diese Worte vorbeten, weil er auch das uralte Problem löste. Er ging ans Kreuz, damit unsere Schuld erlassen werden kann. Wenn wir an ihn glauben, wird unsere Schuld erlassen. Und wir werden fähig, auch anderen zu vergeben. Das dürfen wir nicht salopp sagen. Es gibt wirklich viele sehr schlimme Dinge auf der Erde. Vergebung ist möglich, weil wir uns zwischen Kreuz und Wiederkunft Christi befinden. Allen, die glauben, wurde ihr grosser Schuldenberg durch Jesus erlassen! Und für sie gibt es auch eine begründete Hoffnung: Er kommt wieder und dann wird Gott allen seinen Kindern die Tränen abwischen, ihre Wunden heilen, alles Beschmutzte reinwaschen, das Zerbrochene wiederherstellen und sie an seiner Herrlichkeit teilhaben lassen. In der sechsten Bitte bitten wir, dass Gott uns nicht in Versuchung führt. Wie sollen wir das verstehen? Will uns Gott Fallstricke in den Lebensweg einbauen? In Matthäus 4,1 (LUT) lesen wir: «Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde.» Gottes Geist führt Jesus an einen Ort, an dem er vom Teufel versucht wird. Gott führt auch seine Kinder hin und wieder in versuchliche Situationen, damit sie im Glauben wachsen. Aber Gott selbst versucht nicht. Wir haben aber in den letzten Jahren ein verdrehtes Verhältnis zu Versuchungen entwickelt. Die «süssen Versuchungen» haben in der Werbung längst ihren Siegeszug angetreten und wollen uns immer wieder davon überzeugen, dass einmal kein Mal sein soll. Der Teufel versucht es ähnlich: Er möchte uns Dinge andrehen, die im ersten Moment verlockend aussehen – und uns im zweiten von innen her auffressen. Jesus kennt Versuchungen aus eigener Erfahrung und ist der Einzige, der ihnen ein Leben lang nie nachgab. Er weist uns an, Versuchungen ernst zu nehmen und Gott um Hilfe zu bitten. Gebet ist der Weg des Widerstands. Wir kommen zur siebten und letzten Bitte. Jesus lernt uns, um Bewahrung vor dem Bösen zu beten. Interessant ist sein Gebet in Johannes 17,15 (LUT), in dem er betet: «Ich bitte nicht, dass du sie (d.h. die Jünger) aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen.» Solange wir Teil dieser Welt sind, wird es Böses geben. Auch im Leben der Nachfolger Jesu. Aber es ist wichtig, dass sie in der Welt sind und Gottes Licht verbreiten – denn: es gibt Hoffnung auf Wiederherstellung!

4 – Lobpreis

Über den Lobpreis am Schluss (Matthäus 6,13 LUT)

«[Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]»

und die vielen Folgefragen haben wir am Lifegroup Weekend ausführlich gesprochen. Ich fasse nochmals kurz zusammen. Der Schluss fehlt in den ältesten Abschriften des Evangeliums, die wir als Textgrundlage sehen. Wir wissen deshalb nicht mit Sicherheit, wie Matthäus den Schluss im Original gestaltet hat. Es wäre gut möglich, dass der Lobpreis am Schluss immer wieder gewechselt hat – das war damals üblich. Die Worte, die hier überliefert sind, sind jedenfalls keine neuartige Erfindung, die in den Text hineingeschmuggelt wurde. Der Wortlaut wurde der griechischen Übersetzung von 1. Chronik 29,11 entnommen. Sollen wir den Schluss auch immer wieder einmal wechseln? Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Es ist einleuchtend, auch am Schluss Worte aus der Bibel zu beten. Hinzu kommt auch, dass uns dieses Gebet mit allen anderen Christen weltweit verbindet. Ich wäre deshalb eher vorsichtig. Aber ich denke auch, dass ein anderer Schluss unseren Gebetshorizont erweitern kann. Man könnte beispielsweise ab und zu Römer 11,36 (LUT) an den Schluss setzen: «Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.» Mit einem Lob Gottes zu schliessen ist definitiv wertvoll. Wir schliessen damit den Kreis mit den ersten drei Bitten.

Wir sind an der Endstation unserer Zugfahrt durch das Vaterunser. Was nimmst du mit? Wo möchtest du heute oder morgen noch anhalten und weiter eintauchen? Das Vaterunser ist so reichhaltig, dass ich es jetzt nicht in einem Gedanken zusammenschnüren und euch überreichen möchte. Vielmehr hoffe ich, dass die Freude daran geweckt wurde und ihr selbst noch mehr eintaucht. Am besten tut man das, indem man es betet – und das möchte ich euch auch mit auf den Weg geben. Wie ich im Lifegroup Weekend bereits gesagt habe: Das Vaterunser gehört unbedingt auf die Liste der Dinge, die täglich geschehen. Es ist viel zu wertvoll, um es auf eine andere Liste zu verbannen!

 

Mögliche Fragen für die Kleingruppen

Bibeltext lesen: Matthäus 6,1-18

  1. Wie drückt sich die Hoffnung, dass Gottes Reich kommt, in deinem Leben aus? Von was wünschst du dir, dass du es vor diesem hoffnungsvollen Hintergrund anders leben könntest?
  2. Wann fällt es dir schwer, anderen zu vergeben? Weshalb?
  3. Welche Versuchungen begleiten dich seit längerer Zeit? Wie gehst du damit um?
  4. Was wurde dir (durch die Predigt oder über die Jahre) besonders wichtig am oder im Vaterunser? Weshalb?