Es ist Krieg und keiner geht hin
Serie: Metamorphose | Bibeltext: Matthäus 5,43-47
Make Love, not War («Mach Liebe, keinen Krieg»). Dieses geflügelte Wort fasst die Feindesliebe kurz und prägnant zusammen. Anstatt mit Krieg, sollen Nachfolger von Jesus mit Liebe auf Feindseligkeiten reagieren. Als Vorbild für einen aussergewöhnlichen Lebensstil dient der Vater im Himmel. Er ist nicht nur Vorbild, sondern er will uns durch Metamorphose in diesen Charakter hinein verwandeln.
Carlos Ortiz, der Pastor der schnellst wachsenden Gemeinde in Buenos Aires, erzählte an einer Konferenz eine Geschichte. Seit vielen Jahren war er Pastor und predigte jeden Sonntag. Als er an diesem Sonntag seine Bibel aufschlug und predigen wollte, konnte er nichts anderes sagen als nur: «Liebet einander!». Seine Frau dachte, er drehe durch. Es war sehr peinlich. Nach ein paar Minuten stand er wieder auf und sagte: «Liebet einander!» Und nach einer gewissen Zeit nochmals: «Liebet einander!» Dann blieb er sitzen. Mit der Zeit begann ein Mann unter den tausenden von Gottesdienstbesuchern mit seinem Nachbarn zu reden. Er fragte den Mann, den er nicht kannte, ob er ihm irgendwie helfen könne. Und dann begann ein anderer und wieder einer und schliesslich hunderte mit den Nachbarn zu kommunizieren. Am Ende dieses Gottesdienstes hatten 28 arbeitslose Menschen eine Arbeit gefunden und viele alleinstehende Mütter bekamen Hilfe für ihre Kinder. Hätte der Pfarrer nur eine gute Predigt über Liebe gehalten, wären 28 Menschen ohne Arbeit nach Hause gegangen. Das Tragische ist: Es hätte niemand gekümmert! Carlos Ortiz wiederholte dies am nächsten und übernächsten Sonntag. Nach drei Wochen verliessen 300 Mitglieder seine Kirche. Carlos sagte: «Es ist das Beste, was uns passieren konnte.» Diese 300 Menschen waren überhaupt nicht am christlichen Leben, sondern nur an guten Predigten interessiert.
An was bist du interessiert? Am christlichen Leben oder an guten Predigten? Die Bergpredigt ist am christlichen Leben interessiert; an Tugenden und einem Charakter, der immer mehr dem Vorbild Gottes gleicht.
Wer ist ein Feind?
«Ihr habt gehört, dass es im Gesetz von Mose heisst: ‘Liebe deinen Nächsten’ und hasse deinen Feind. Ich aber sage: Liebt eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen!» (Matthäus 5,43f NLB). Vergeblich werden wir in der Tora das Gebot suchen, die Feinde zu hassen. Dieses Gebot gibt es nicht. Es ist so, dass die Aussage: «Du sollst deinen Nächsten lieben» von einigen Rabbinern interpretiert wurde als: «Du sollst nur deinen Nächsten lieben». Deshalb drehte sich eine der grossen Debatte unter den Rabbinern um die Frage: «Wer ist mein Nächster?» Mit dieser Frage konfrontierten sie auch Jesus (Lukas 10,29). Das war der Anlass für das Gleichnis des barmherzigen Samariters. Ein Mann wurde nach einem Überfall verletzt am Strassenrand liegengelassen. Der Reihe nach kamen ein jüdischer Priester, ein Tempeldiener und ein Samaritaner vorbei. Die ersten zwei schauten weg und wechselten die Strassenseite. Der Samaritaner unternahm eine aufwändige Hilfeaktion. Die Samaritaner gehörten damals zu den grössten Feinden der Juden. Zum Schluss fragte Jesus in die Runde: «Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?» (Lukas 10,36 NLB). Wer ist mein Nächster? Jeder! Und – ich kann nicht aus meiner Optik heraus entscheiden, wer mein Nächster ist, sondern die Not des anderen macht mich zu seinem Nächsten. Wenn ich eine Not sehe und ihrer gewahr werde, werde ich automatisch zum Nächsten.
Feinde können zudem Menschen sein, die eine völlig andere Persönlichkeit aufweisen und du dich immer wieder an ihnen reibst. Manchmal wird auch ein Konkurrent zum Feind, weil er einem das Wasser abgräbt. Vielleicht sitzt dein Feind im gleichen Gremium und versucht das diametral andere Projekt durchzusetzen, als du es tust. Mein Schwiegervater war grüner Kantonsrat. Wenn ihm ein Missgeschick passierte, pflegte er spasseshalber zu sagen: «Das war die SVP!» Für den Autoimporteur sind die Klimaaktivisten Feinde. Ein Feind ist eine Person, die entweder deine Hilfe braucht, die du komisch findest, eine völlig andere Meinungen vertritt, dir Böse will oder dir dauernd am Nerv sägt. Manchmal werden Menschen zu Feinden, ohne dass wir es wollen. So schreibt Friedrich Schiller: «Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.»
Wie gehen wir mit dem Feind um?
In der Metamorphose geht es darum, immer mehr wie der Vater im Himmel zu werden. Wie geht Gott mit Menschen um, die nicht nach ihm fragen und ihn sogar ablehnen? Jesus gibt uns die Antwort: «So handelt ihr wie wahre Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt die Sonne für Böse und Gute aufgehen und sendet Regen für die Gerechten wie für die Ungerechten» (Matthäus 5,45 NLB). Gott lässt über seinen Feinden die Sonne aufgehen und sendet Regen. Er sorgt für ihr Wohlbefinden – gleichermassen wie er für das Wohlergehen seiner Nachfolger sorgt. Christen werden also nicht bevorzugt. Eine Qualle unterscheidet nicht, ob sie einen Christen oder einen Atheisten sticht. Auch bei Opfern von Verkehrsunfällen ist die Quote bei Jesus gläubigen Menschen nicht tiefer als sonst. Diese Tatsache, dass Gott Undankbare segnet, hat die Menschen schon immer irritiert. «Weshalb geht es den Gottlosen so gut?» fragt Asaph (Psalm 73,3f; vgl. Jeremia 12,1). Die äusseren Umstände sind bei allen Menschen im Durchschnitt dieselben. Der Grund dafür ist, dass Gott eben nicht studiert, wem er freundlich begegnen soll und wem nicht. Der himmlische Vater ist in seinem Wesen gut. Er ist Liebe. «Alles, was gut und vollkommen ist, wird uns von oben geschenkt, von Gott, der alle Lichter des Himmels erschuf. Anders als sie ändert er sich nicht, noch wechselt er zwischen Licht und Finsternis» (Jakobus 1,17 NLB). Später einmal, wenn Jesus wiedergekommen ist, und das Jüngste Gericht stattgefunden hat, wird es anders sein. Die Bibel redet von zwei Zuständen von Himmel und Hölle. Der Himmel ist der Ort, wo Gottes Güte und Barmherzigkeit in letzter Konsequenz und Vollkommenheit erfahren werden kann. In der Hölle hingegen erleben Menschen, wie die Sonne und der Regen Gottes gänzlich ausbleiben wird. Das muss furchtbar sein!
Was hat ein Mensch davon, dass er Gott ehrt, wenn er dennoch das gleiche Leid erfährt? Ein Nachfolger von Jesus ist nie allein. Gott steht immer zu ihm. «Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich» (Psalm 23,4 LUT).
Für «Feinde» beten: Das jüdische Denken versteht unter Liebe ein konkretes Handeln und nicht ein Gefühl. Was erwartet Jesus von seinen Nachfolgern, wenn sie Widerstand erleben? Dass sie nicht mit Hass reagieren, sondern ihre Gefühle in ein Gebet umwandeln. Das ist eine Art, um Liebe zu konkretisieren. Das Ziel des Betens ist, dass der Feind aufhört, ein Feind zu sein. Nur der allmächtige Gott kann das bewirken. Das Gebet ist eine mächtige Waffe. Dadurch wird das ‘Feindschaftsverhältnis’ von einer Seite instabil gemacht. Die jüdische Tradition sagt dazu: Bete für den Feind, dass er Gott diene. Wer ist ein Grosser? Derjenige, der jemanden, der ihn hasst, zu jemandem macht, der ihn liebt. Die bedrückt werden und nicht bedrücken, die ihre Schmähung hören und sie nicht erwidern, die aus Liebe handeln und sich in Leiden freuen – über die sagt die Schrift: «Aber die dich lieben, sollen in ihrer Kraft wachsen wie die aufgehende Sonne!» (Richter 5,31 NLB).
Was macht das christliche Leben besonders?
«Wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben, was ist daran Besonderes? Das tun sogar die bestechlichen Steuereintreiber. Wenn ihr nur zu euren Freunden freundlich seid, wodurch unterscheidet ihr euch dann von den anderen Menschen? Das tun sogar die, die Gott nicht kennen» (Matthäus 5,46f NLB). Bei anderer Gelegenheit erklärt Jesus, wie sich ein Christ von anderen unterscheiden kann: «Liebt eure Feinde! Erweist ihnen Gutes! Leiht ihnen Geld! Und macht euch keine Sorgen, weil sie es euch vielleicht nicht wiedergeben werden. Dann wird euer Lohn im Himmel gross sein und ihr handelt wirklich wie Kinder des Allerhöchsten, denn er erweist auch den Undankbaren und den Bösen Gutes» (Lukas 6,35 NLB). Salomo hat übrigens schon im Alten Testament die Feindesliebe proklamiert: «Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen. Wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. So wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln, und der Herr wird dich belohnen» (Sprüche 25,21f NLB).
«Stellt euch vor, es ist Krieg und keiner geht hin.» Das ist schön gesagt. Im Sinne des Predigttextes reicht eine solche Vermeidungstaktik aber nicht. Gefordert ist der Weg der Liebe. In diesem Sinn möchte ich sagen: «Make Love – not War».
Dazu eine eindrückliche Erfahrung von Corrie ten Boom. Nach einer Predigt in einer Münchner Kirche stand sie ihrem ehemaligen Peiniger aus dem KZ Ravensbrück gegenüber, der sie gequält und gedemütigt hatte. Nach der Predigt kam er auf sie zu und sagte zu ihr: «Sie erwähnten Ravensbrück in Ihrer Predigt». «Ich war Wärter dort. Aber das ist vorbei» fuhr er fort. «Ich bin Christ geworden. Ich weiss, dass Gott mir alle Grausamkeiten, die ich dort getan habe, vergeben hat. Aber ich möchte es auch noch aus ihrem Mund hören. Können Sie mir vergeben?» Dann beschreibt sie ihren inneren Kampf und wie die Erinnerung an ihre in Ravensbrück umgekommene Schwester Betsie in ihr wach wird. Sie schreibt weiter: «Die Botschaft von der Vergebung Gottes hat eine entscheidende Voraussetzung: dass wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. «Wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen nicht vergebt», sagt Jesus, «wird auch der Vater im Himmel euch eure Übertretungen nicht vergeben.» Das wusste ich – nicht nur als Gebot Gottes, sondern auch aus täglicher Erfahrung. Seit dem Ende des Krieges unterhielt ich in Bloemendaal das Heim für Opfer des Naziregimes, und gerade dort konnte ich es doch mit Händen greifen: Nur die, die ihren früheren Feinden vergeben konnten, waren in der Lage, zurückzufinden und neu anzufangen, gleich, in welchem körperlichen Zustand sie sich befanden. Wer seine Bitterkeit pflegte, blieb Invalide. Das war ebenso einfach wie schrecklich. Und ich stand da mit meinem kalten Herzen. Aber Vergebung ist kein Gefühl – das wusste ich auch. Vergebung ist ein Akt des Willens, und der Wille kann ohne Rücksicht auf die Temperatur des Herzens handeln. «Jesus, hilf mir», betete ich leise. «Ich kann meine Hand heben. Das wenigstens kann ich tun. Das Gefühl musst du dazu tun.» Hölzern, mechanisch legte ich meine Hand in die ausgestreckte Hand des Mannes. Als ich es tat, geschah etwas Unglaubliches. Die Bewegung entstand in meiner Schulter, sie strömte in meinen Arm und sprang in die umschlossene Hand. Und dann schien diese heilende Wärme mein ganzes Sein zu durchfluten. Tränen kamen mir in die Augen. «Ich vergebe dir, Bruder» weinte ich. «Von ganzem Herzen.» Einen langen Augenblick lang hielten wir uns die Hände, der frühere Wärter und die frühere Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie in diesem Augenblick.
Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie in diesem Augenblick. Das ist doch interessant. Der Corries Liebesakt hat Gottes Liebe aktiviert. Sie entschied sich zu lieben und die Liebe war da! «Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt» (1Johannes 4,19 LUT). Es geht darum, vom Wesen Gottes im Herzen so geprägt zu werden, dass wir selbst die Feinde lieben können. Wer um offene Augen und Gottes Liebe bittet, wird erfahren: Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann.
Mögliche Fragen für die Kleingruppen
Bibeltext lesen: Matthäus 5,43-47
- Wer wird durch seine Not zu deinem Nächsten? Wer ist dein Feind? Wem weichst du aus?
- Bei welcher Konstellation könntest du das ‘Feindschaftsverhältnis’ von deiner Seite her instabil machen?
- Was für konkrete Möglichkeiten gibt es, einen Menschen zu lieben? Was empfiehlt Jesus? Was meint Salomo?
- Wie hat Jesus selbst Feindesliebe gelebt?
- Hast du schon erfahren, wie du mit Gottes Liebe beschenkt wurdest, als du dich zur Liebe überwunden hast?