Hagar – du bist (an)gesehen
Hagar musste als Sklavin für Sarah, die Ehefrau von Abraham, einspringen, weil diese keine Kinder kriegte. Als sie schwanger war, führten die beiden Frauen einen Zickenkrieg, so dass Hagar in die Wüste floh. Dort begegnete sie einem Engel, der ihr befahl, sich zu demütigen und zurückzugehen. Hagar nannte den Herrn, der zu ihr gesprochen hatte, El Roi – Gott, der mich (an)sieht. Weil sie von Gott Ansehen bekam, konnte sie in das emotionale Trümmerfeld zurückgehen.
Hast du dir schon einmal geschworen, dass du an diesen Ort nie mehr zurückkommst? Vielleicht an einen Arbeitsplatz, an dem du gemobbt wurdest, oder eine schreckliche Familie, bei der du Landdienst gemacht hast, oder eine Person, die dich zutiefst verletzt hat? Es gibt sogar Menschen, die haben ihre Familie mit der Festlegung verlassen, nie mehr mit diesen Leuten Kontakt zu haben. Die Redewendung «Das Tischtuch ist zerschnitten» bringt den definitiven Entschluss zum Ausdruck.
Zickenalarm
In 1. Mose 16 lernen wir Hagar kennen, eine Frau, die sich in einer ausweglosen Situation befindet. Sarai, die Frau des Patriarchen Abram, wird nicht schwanger, obwohl Gott ihr ein Kind versprochen hat. Sie wartet und wartet – und verliert irgendwann die Geduld. Sie hat – wie auch wir so oft – eine bessere Idee, wie Gott zu seinem Ziel kommen kann. «Da sagte Sarai zu Abram: ‘Der Herr hat mir keine Kinder geschenkt. Schlaf du mit meiner Sklavin. Vielleicht kann ich durch sie Kinder haben.’ Abram war einverstanden» (1Mose 16,2 NL). In gut betuchten Kreisen war damals üblich: Bei Kinderlosigkeit schickt eine Ehefrau kurzerhand eine ihrer Sklavinnen ins Bett des Mannes. Diese trägt dann ein Kind aus, das ihrer Herrin gehört. Hagar, die Magd von Sara, stellt sich zur Verfügung. Sie wird tatsächlich schwanger und damit zur Leihmutter für Sara und Abraham.
Wer von saftigen Skandalen fasziniert ist, braucht nur zur Bibel zu greifen: «Zickenalarm im Hause Abrahams!» könnte die Schlagzeile lauten. Es «menschelt» gewaltig in den Zelten des Patriarchen. Vermutlich wurde die Sklavin Hagar als Beute von Ägypten mitgebracht, nachdem Abraham einen unrühmlichen Abstecher dorthin gemacht hatte. Sie ist eine Aussenseiterin. «Als Hagar bemerkte, dass sie schwanger war, verachtete sie ihre Herrin Sarai» (V4b NL). Mit ihrer Schwangerschaft hat diese Frau auf einmal eine Trumpfkarte gegenüber ihrer Herrin, die, wie es scheint, drohende Konkurrenz nicht gerne duldet. Beide Frauen sind mit ihrer Situation restlos überfordert. Es fliegen die Fetzen! Man kann sich die Sticheleien gut vorstellen: Hagar trägt ihren wachsenden Bauch stolz vor sich her und wirft Sarai abschätzige Blicke zu, nach dem Motto: «Ich kann was, was du nicht kannst!»
«Da machte Sarai Abram einen Vorwurf: ‘Das ist alles deine Schuld! Jetzt, wo meine Sklavin schwanger ist, werde ich von ihr verachtet. Dabei habe ich sie dir doch zur Frau gegeben. Der Herr soll Richter sein zwischen dir und mir!’ Abram entgegnete ihr: ‘Sie ist deine Sklavin. Mach mit ihr, was du für angebracht hältst.’ Doch als Sarai hart mit ihr umsprang, lief Hagar fort» (V.5+6 NL). Hagar brennt die Sicherung durch und ergreift die Flucht. Und jetzt wird die Situation kritisch: Sie hat das Kind mitgenommen, den Erben, der nicht ihr, sondern Abram und Sarai gehört.
Wüstenerfahrung
Eine Frau, die eine Tagesreise weit in diese Wüste hinein marschiert, hat nicht vor, zurückzukommen. Würde Hagar wiederkommen, wartete vermutlich die Todesstrafe auf sie. Sie hat nicht nur die Arbeit verweigert, sondern auch das Kind in den Abgrund mitgenommen. Es ist aus mit ihr. Mit einer Sache hat Hagar aber nicht gerechnet: dass Gott seine Finger in diesem bitteren Konflikt hat. Die Zärtlichkeit, mit der Gott Hagar begegnet, ist tief bewegend. Die verzweifelte Sklavin kann es fast nicht fassen, dass kein Geringerer als der Gott Abrahams ihr nachgeht und sie ausgerechnet am Tiefpunkt ihres Lebens einholt. «Der Engel des Herrn fand Hagar in der Wüste neben der Quelle am Weg nach Schur» (V.7 NL).
Wüstenzeiten haben es in sich. In Wüstenzeiten bewirkt Gott Dinge, die er mitten im Lärm und in den Ablenkungen unseres normalen Alltags nicht bewirken kann. Gott liebt es, Menschen, die in der Kargheit einer Wüste sind, zu begegnen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir regelmässig uns in die Wüste zurückziehen. Dadurch geben wir Gott die Möglichkeit, an unserem Charakter zu arbeiten.
Der Engel stellt Hagar im Auftrag Gottes eine einfache Frage: «Hagar, Sklavin von Sarai, woher kommst du und wohin gehst du?» (V.8a NL). Ist es nicht interessant, was für Fragen Gott manchmal stellt? «Wo bist du, Adam?», «Wo ist dein Bruder, Kain?», «Was willst du, das ich für dich tue?», «Was machst du hier, Elia?» … Gott stellt Fragen – nicht weil er Informationen, sondern weil wir Informationen über uns brauchen. Die erste Frage beantwortet Hagar selbst: «Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai» (V.8b). Interessant ist, was nicht in dieser Antwort steht. Wenn ich so verletzt wäre wie sie, würde ich an dieser Stelle vermutlich vor Wut platzen: «Diese blöde Kuh! Wenn du wüsstest wie die mit mir umgegangen ist! Das undankbare Wesen!» Keine Spur von alledem. Nur das Eingeständnis, auf der Flucht zu sein. Keine Anklagen, keine Unterstellungen, kein Drang, ihre Seite der Geschichte loszuwerden, keine Opferrolle. Sind bei uns nicht immer die anderen oder die Umstände schuld?
Gott bemitleidet sie auch nicht. Seine zweite Frage: «Wohin gehst du?» beantwortet er selbst: «Kehr zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter» (V.9 NL). Arme Hagar! Zurück in dieses emotionale Trümmerfeld, zurück zu drohender Strafe? Ist nicht Sarai eher diejenige, die sich demütigen und entschuldigen müsste? Es gibt keine Rücksicht auf Hagars Gefühle. Sie soll einfach tun, was dran ist. Was Gott Hagar zumutet, ist nichts für Feiglinge. Wie hat sie das bloss verkraftet?
Rückkehr
Die Antwort steckt in dem Namen, den sie Gott gibt: «El Roi – der Gott, der mich sieht». Sie hat in Gottes Augen geschaut. Zurück zu gehen ist eine Zumutung, wenn wir nicht zuvor Gott begegnet sind. Wer von ihm Ansehen und Kraft bekommen hat, kann sich demütigen und unzumutbaren Herausforderungen stellen! El Roi: Er hat mich gesehen – und ich habe ihn gesehen! Damit hat sich die gesamte Situation gewandelt.
Zu dieser Begegnung lädt Gott auch uns ein. Ein paar tausend Jahre nach Hagar hat dieser El Roi ein Gesicht bekommen: Jesus Christus. El Roi, Mensch für uns geworden. Unwiderstehlich in seiner Liebe. Bedingungslos in seiner Gnade. Auch in dieser Geschichte wirft das Kommen Jesu Christi seinen Schatten voraus. Gott hat gesehen, dass Hagars eigentliches Problem nicht das feindliche Verhalten Sarais war, sondern die Trennung zwischen ihr und ihrem Schöpfer. Das Gefühl unbeachtet, verwaist, einem willkürlichen Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein. In der Wüste macht sie die grosse Entdeckung, die auch wir machen dürfen: Da ist jemand, der mich beachtet, dessen Sehnsucht nach mir sogar tiefer ist als meine Sehnsucht nach ihm.
El Roi hat mich gesehen, hat mir Ansehen gegeben. Ich kann mich demütigen und dem Leben ins Gesicht schauen. Zurück zu dem Ort, wo ich verletzt oder missbraucht wurde, wo ich mich an anderen schuldig gemacht habe, wo ich mich überfordert fühle. Wer an Gottes Brunnen lebendiges Wasser getrunken hat und auf das Kreuz geschaut hat, muss nicht mehr nach sich selbst schauen. Es ist ein hartes Geschäft, immer aufpassen zu müssen, dass ich auf meine Kosten komme, dass ich gut dastehe. Wenn ich Gott als El Roi entdeckt habe, kann ich verzichten. Das ist die lebensverändernde Kraft des Evangeliums. Wer Ansehen hat, muss nicht mehr nach sich selbst schauen! Mit dem Ansehen Gottes kannst du dich demütigen und um Vergebung bitten, auch wenn du der Ansicht bist, dass der andere mindestens so viel Schuld trägt wie du. Du kannst zurück an die Arbeitsstelle, zu der du einmal gesagt hast: «Nie mehr!» Du kannst mit Menschen in Verbindung treten, die du jahrelang geschnitten oder verachtet hast. Vielleicht kannst du sogar mit deinem früheren Ehepartner wieder zurechtkommen.
Bei dieser Begegnung mit El Roi bekommt Hagar eine Verheissung: «Ich werde dir mehr Nachkommen geben, als du zählen kannst. Du wirst einen Sohn bekommen. Nenne ihn Ismael» (V.10f NL). Ismael heiratete später eine Ägypterin. Weil er ebenfalls Abrahams Sohn ist, stammt auch von ihm ein Volk ab. Der Engel prophezeite Hagar: «Dein Sohn wird ungezähmt sein wie ein wilder Esel! Er wird sich gegen alle stellen und alle werden gegen ihn sein. Ja, er wird mit allen seinen Brüdern im Streit leben» (V.12 NL). Das momentan vielleicht heisseste Thema in Europa ist der Islam. Ich will den Islam weder verharmlosen noch reale Gefahren kleinreden. Doch wenn es stimmt, dass der Islam auf Ismael und Abraham zurückgeht, ist die unterste Wurzel des Islams Angst vor Ablehnung. Abraham hat sich passiv und schlecht gegenüber seinem ersten Sohn verhalten und ihn in die Wüste geschickt (1Mose 21,10ff). In den islamischen Ländern gibt es so viel Mentalität, dass sie glauben, der Westen wollen sie fertig machen. Es ist paradox, dass wir im Westen Angst vor ihnen haben und sie haben Angst vor uns. Das einzige, was Menschen erreicht, heilt und verändert, ist Liebe und Annahme. Der Islam kennt keine Vater-Gott. Das Grundbekenntnis des Islams ist, dass Allah der Einzige ist und dass er nicht zeugt und nicht gezeugt wurde. Das Bekenntnis von Jesus ist: Es gibt einen Vater. Er gibt uns Ansehen, bedingungslose Liebe, und grenzenlose Gnade. Das – und nur das – heilt und verändert einen Menschen, so dass ihm zugemutet werden kann, zurückzugehen und sich zu demütigen. Je mehr Menschen das tun, desto mehr breitet sich diese «Epidemie» aus. Aus einer einzigen Tat werden weitere folgen, und dann noch eine. Es kann zu einer positiven Kettenreaktion werden und somit nicht nur dich, sondern die Welt verändern.
Mögliche Fragen für die Kleingruppen
Bibeltext lesen: 1. Mose 16+21
- Was hältst du vom Verhalten von Abram und Sarai? Wie denkst du über Hagar?
- Was ist dein Kommentar zu den Gedanken über den Islam?
- Hast du auch schon Menschen, Situationen oder Orte mit dem festen Entschluss verlassen, hierher nie mehr zurückzukehren?
- Was hindert dich daran, zurückzukehren?
- Vielleicht brauchst du zuerst ein Wüstenerlebnis mit dem Gott, der Ansehen gibt. Wie willst du ein solches provozieren?